Aus dem Reader
zu dem Vortrag :
Viren, Wahre Geschichten von Kunst/Körpern und Mutationen
von Claudia Jost

Viren
Joseph Handler:
Das Buch der Gesundheit, Monte Caib 1969. S 72-75, Bd. 15

Was sind Viren - und woher kommen sie?

Die größten Viren - die Viren der Pockengruppe - haben eine kompliziene Morphologie. Das Vakzinevirus mißt 210 Millimikron oder 210 Millionstelmillimeter. Die großen Viren besitzen eine Art Kern, ferner ein Protoplasma, das hier als Viroplasma bezeichnet wird, und schließlich eine Membran als Umhüllung. Sie sind den Zellen ähnlich, und in ihrer Zusammensetzung stehen sie den Bakterien nahe. Dagegen haben die kleinen Viren - zum Beispiel der Erreger der Poliomyelitis, der etwa dreißig Millimikron mißt - eine einfache Struktur. Sie lassen sich in einem Zustand hoher chemischer Reinheit kristallförmig isolieren, ohne ihre Infektionskraft einzubüßen. Sie sind keine Zellen, und ihre Eigenschaften entsprechen weit mehr der leblosen organischen Materie.

Fragt man nach der genauen Natur der Viren, so steht man gleich vor einem ganzen Bündel von Problemen: Sind die Viren degenerierte Parasiten, die ihre unabhängige Lebensfähigkeit fortschreitend eingebüßt haben? In diesem Falle wären sie Infektionserreger, die durch Einbruch in die Zelle eindringen. Oder sind sie aus dem genetischen Material der Zelle selbst hervorgegangen? In diesem Falle wären sie abweichende Derivate der normalen Zellbestandteile: Ein Teil des genetischen Materials, der sich von der Zelle trennt, würde eine unabhängige Existenz beginnen, aber unter Aufrechterhaltung der Verbindung mit der Mutterzelle. Das wären "nackte Gene" oder "freie Boten", die im Gegensatz zu den normalen Botensubstanzen der Zelle die Fähigkeit zur Übertragung und zur unabhängigen Reproduktion besitzen. Ihr infektiöser Bestandteil ist jedoch zu selbständiger Vermehrung unfähig. Diese Partikel sind leblos und vermögen nur die lnfektion von Zelle zu Zelle zu übertragen.

Sind die Viren vielleicht nacheinander lebend und leblos? Die Fähigkeit zur Vermehrung unter Übermittlung von Erbeigenschaften ist das Kriterium der lebenden Materie. Aber außerhalb der Zelle ist das Virus von irgendeiner leblosen organischen Verbindung nicht mehr zu unterscheiden.

 

Lebende Kristalle

Als es Stanley gelang, ein kristallisiertes Protein mit den Eigenschaften des Tabakmosaikvirus zu isolieren, bemächtigte sich der wissenschaftlichen Welt begreifliche Erregung. Natürlich wurde sofort der Einwand erhoben, es handle sich hier nur um Parakristalle, um lange Molekülreihen ohne zwangsläufig festgelegte Anordnung.

Aber bald darauf fanden Bawden und Pirie beim Erreger einer Tomatenkrankheit (bushy- stunt) - einem kleinen, kugelförmigen Millimikron Virus - echte, zum kubischen System gehörende Kristalle. Schließlich lieferte auch das Mosaikvirus selbst hexagonale Formen, die allen Anforderungen der Kristallographie genügten.

So konnte man versichern, daß - zumindest bei einigen Viren - eine besondere molekulare Anordnung existiert, die eine klar und endgültig festgelegte Struktur produziert wie die eines Kochsalz- oder Kupfersulfatkristalls. Damit war das Virus ohne jeden Zweifel als physikalischer Körper definiert.

Aber diese Erkenntnis stellte die Virologie vor ein Dilemma: Entweder kann das Leben eine Form annehmen, von der man bisher angenommen hatte, daß sie - ausnahmslos - der leblosen Materie vorbehalten sei: die Form des Kristalls; oder die Viren sind keine Lebewesen!

 

Eine einzige Säure

Die Isolierung der Viren in einem ausreichenden Zustand der Reinheit ermöglichte ihre genaue chemische Analyse. Wie alle Lebewesen bestehen auch die Viren aus zwei Hauptbestandteilen: Proteine, die sechzig bis fünfundneunzig Prozent der gesamten Masse ausmachen und dem Virus seine Antigenspezifität verleihen (die beim Wirt eine selektiv gegen das bestimmte Virus gerichtete Reaktion hervorruft); und Nukleinsäuren, die für die Übermittlung der arteigenen Erbeigenschaften bei der Vermehrung verantwortlich sind und zwei bis vierzig Prozent der Virusmasse darstellen. Aber die Viren besitzen jeweils nur eine einzige Nukleinsäure - entweder DNS oder RNS - während alle andern ein- oder vielzelligen Organismen stets sowohl DNS als Träger der Erbmasse als auch RNS zur Steuerung der Proteinsynthese enthalten. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß diese Säuren, die bei jeder Virusart in der ihr eigenen Form vorhanden sind, ihrer Struktur nach den entsprechenden Säuren aller übrigen Organismen - Bakterien, Tiere oder Menschen - durchaus ähnlich bleiben. Neben diesen Hauptbestandteilen gibt es - je nach dem Virustyp - auch noch Kohlehydrate und Lipoide (fettähnliche Stoffe). Die besondere Natur der Viren und ihre in der Regel starre Struktur bringen es mit sich, daß sie im allgemeinen eine bestimmte und meistens geometrische Form aufweisen. Das Elektronenmikroskop, das uns die stäbchenförmige Struktur des Tabakmosaikvirus oder die kaulquappenähnliche Form des Bakteriophagen zu zeigen vermag, ermöglicht die morphologische Untersuchung der Viren.

Abgesehen von den Bakteriophagen, die seltsamerweise mit einem Schwanz ausgestattet sind, weisen die Viren einen hohen Grad von Symmetrie auf. Man unterscheidet zwei Gruppen: die Gruppe des kubischen Systems, zu der die Herpesviren gehören, und die Gruppe mit schraubenförmiger Struktur, deren zentraler, spiralfederförmiger Faden - zum Beispiel beim Tollwut- und beim Grippevirus - aus RNS besteht. Diese morphologischen Beobachtungen werden durch andere physikalische Methoden - wie Kristaliographie und Radiokristallographie - vervollständigt.

 

Virus gegen Zelle

Mit Hilfe der radioaktiven Markierung mit Tracer-lsotopen gelang es Hershey und Chase von 1953 an, das Verhalten der Bakteriophagen zu beobachten.

Die Begegnung zwischen dem Phagen und dem Bakterium bleibt dem Zufall überlassen, da das Virus zu keiner Eigenbewegung fähig ist. Der Phage heftet sich mit seinem Schwanz an das Bakterium; aber seine Fixierung an die Bakterienmembran ist zunächst locker und aufhebbar. Jedoch wird sie im Laufe von wenigen Minuten - durch eine starke chemische Bindung gefestigt - unaufhebbar. Zerstört man unmittelbar danach, solange das mikroskopische Bild noch unverändert bleibt, die bakterielle Suspension mit Gewalt (zum Beispiel durch Ultraschall), so zeigt sich, daß die Proteine an den Bakterienmembranen fixiert bleiben und daß nur die Nukleinsäure in das Bakterium eingedrungen ist. Allem Anschein nach besitzt der Schwanz des Phagen eine chemische Substanz, ein Enzym, mit der Fähigkeit zur Auflösung der Bakterienmembran, so daß dann sein Protein die virale Nukleinsäure in das Innere der parasitierten Zelle "einspritzen" kann - wie mit einer Injektionsnadel!

Die Grippeviren besitzen die eigenartige Fähigkeit, die roten Blutkörperchen durch Viruspartikel, die sich auf ihnen fixieren, zu agglutinieren (Hämagglutination). Dieses Phänomen ermöglichte die Feststellung der interessanten Tatsache, daß sich die Viren nur an ganz bestimmten "empfänglichen" Stellen der Zelle fixieren können, als habe die Natur für die Möglichkeit dieser Begegnung Vorsorge getroffen.

Wenn das Virus in eine Zelle eingedrungen ist, verschwindet es zunächst von der Bildfläche. Während einer kürzeren oder längeren Phase findet man von ihm keine Spur mehr. Inzwischen entsteht in der infizierten Zelle - entweder im Innern des Kerns oder in seiner unmittelbaren Umgebung - eine undifferenzierte Masse, die sich vergrößert und schließlich zu einem Einschlußkörperchen wird, in dem man dann im Endstadium erkennbare Viruspartikel wiederfindet.

Die Zellschädigungen sind verschiedener Art, und die Virusinfektion führt nicht zwangsläufig zum Platzen der Membran und zum Tod der Zelle. Oft findet man in den infizierten Zellen nur Einschlußkörperchen und Veränderungen in der Färbbarkeit.

 

Die Kriterien der Viren
Dank den Forschungsarbeiten zahlreicher Gelehrter - insbesondere Crick, Watson, Franklin, Klug und Holmes - kennt man heute die charakteristischen Merkmale der Viren.

1   Viren sind ultramikroskopische Gebilde, die zur Reproduktion in spezifischen Zellen von bestimmtem je nach der Virusart verschiedenem Typ fähig sind.

2   Sie parasitieren in lebenden Zellen

3   Zum Unterschied von allen anderen Organismen enthalten sie nur eine einzige Nukleinsäre: entweder RNS oder DNS.

4   Sie haben keinen eigenen Stoffwechsel; sie sind zur Umwandlung von Nahrung in Energie unfähig.

5   Ihre Reproduktion erfolgt ausschließlich auf Grund ihres genetischen Materials.

6   Sie sind filtrierbar.

7   Sie besitzen in ihrer Evolution eine gewisse Wandlungsfähigkeit.

Die Kriterien der Viren

 

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