Zu dem Vortrag
dies ist mein Körper...
dies ist meine Software

von ORLAN der Kommentar von

Ulrike Oudée Dünkelsbühler

Stich-Punkte
Gezeichnet:

Orlan/hors langue
A Susann[1]

Kunst - was immer das sein mag - kommt von Können und kann kaum weniger als Übersetzen. Der Prozeß des Übersetzens ist selbst eine Form der opération. Hier wird sie dargestellt und übersetzt als performance, wörtlich 'Durchformung'. Es geht also um Orlans opérations-performances, hier als ein Genre von Kunst.

Solche und jede Übersetzungsarbeit ist immer auch - das möchte ich hier als Frage und These anregen - die Operation einer Trauerarbeit, fröhlich, lustvoll, schmerzhaft oder nicht, oder bisweilen. Warum sonst gäbe es den Antrieb, die Dringlichkeit, etwas herzustellen - poiesis -, wiederherzustellen oder neu herzustellen, wenn nicht, weil es sonst fehlte. Sagen wir also, die Operation der Kunst leistet insofern eine Trauerarbeit, als sie einem Mangel, einem Fehl übersetzend beizukommen versucht. Es ist der Versuch, die Ränder einer Leerstelle zu fassen, die auch ein Exzess sein kann, wo das Kryptische[2] im Vakuum sich staut und herrscht - die Übersetzung diktiert.

Diese These - Kunst als Übersetzung und Übersetzungs- als Trauerarbeit [3]- verschärft sich genau in dem Maß, wie das sog. Objekt der Trauer[4] - der Verlust oder das Fehl - unscharf scheint, nicht erscheint, sich nicht von sich aus (re-)präsentiert oder repräsentieren läßt. Wo - a fortiori[5] - die Nichtrepräsentierbarkeit selbst zum Mangel werden kann. Mit anderen Worten: die These verschärft sich in dem Maß, wie das Betrauerte oder zu Betrauernde unbekannt oder unbestimmbar, unsagbar ist. Dann gilt es umso dringlicher, eine Form der Repräsentation für diese Leerstelle zu finden, herzustellen. Weshalb Kunst - und Trauerarbeit - entgegen mancher Thesen[6] zumindest auch Operationen im aktivsten Sinn des Wortes sind. Was man landläufig die Kunst der Sublimierung nennt: immer zu übersetzen; die Aufgabe bleibt. Zumal man sich immer dort in einem Dilemma befindet, wo die unmögliche und notwendige Repräsentation des Nichtrepräsentierbaren, des Nichtnennbaren, des Unsagbaren - um nicht zu sagen des Unsäglichen - auf dem Spiel steht und Übersetzung deshalb die einzige Möglichkeit bleibt.
Gleichsam als Motto für das folgende möchte ich deshalb als setting voranstellen: Man befindet sich "in der paradoxen Situation, eine Sprache finden zu müssen, wo ein Ausfall der Sprache indiziert ist."[7]
Wie also den Ausfall - den mitunter indizierten Ausfall der Sprache, diese Leerstelle, das Fehl selbst übersetzen, wie seine Ränder, die Ränder von Löchern artikulieren? Mit anderen Worten, wie spricht man hors langue? Was folgt ist der Versuch, diesen Ausfall als buchstäblichen Gesichtspunkt zu lesen. Stichpunktartig, und anschneidend. Punkt Doppelpunkt.

Am sogenannten Anfang ein Zitat von Orlan. Ein Zitat, d.h. eine punktuelle Wiederholung, eine Wiederholung von Punkten, Zeichen, Anführungszeichen, vorne, hinten, usw. Die Wiederholung von Punkten setzt hier eine besondere Dynamik in Gang: die Dynamik einer opération performance des Punktes nämlich, und in der Form einer besonderen Gewalt, genauer: in Gang kommen wird die opération performance mehrerer Punkte, Stiche, bis hin zum Schnitt, einer Wunde. Das Zitat: dieses ausschneidende und einpflanzende Moment einer opération-montage, wo sich ein Anderes einverleibt und reproduziert wird. Wo eine Art textuelles Ready-made - signalisierend und unsigniert - entsteht. Ein Zitat also, hier aus L'art charnel, Orlans fleischlicher Kunst oder Fleischeskunst - einem buchstäblichen "Manifest" von carneval, den Wert des Fleisches feiernd, mit den Händen (manifest): Ich zitiere:

Wahrnehmung [perception]:

    Jetzt [Dèsormais: von jetzt an] kann ich meinen eigenen Körper offen sehen ohne zu leiden! Ich kann mich bis auf den Grund der Eingeweide sehen: neues Spiegelstadium. [...] (160, Herv. U.D.)[8]

Hier ist viel offen. Etwa die Frage, die ebenso naheliegend ist wie sie sich genau nicht erübrigt: Was gibt diese abgründige Offenheit zu sehen und was nicht? Was wird ad oculus - vor Augen - geführt, oder zu den Augen (nicht Augen zu, noch nicht)? Das fragt auch: was gibt Orlan sich und was den anderen, den spectateurs, der audience, sprich denen, die wesentlich durch Sehen und Hören bestimmt sind? Kurz: Worin besteht die Gabe, le don, dieses donner àvoir (zu sehen geben), und sogar - frz. voire - se donner àvoir? What gift? Diese Frage drängt sich umso stärker auf, als eine gewisse Mitgift bei Orlans ersten opérations-performances konstitutiven Anteil hat.[9] Zitat:

    Die ersten Arbeiten wurden mit den Tüchern meiner Aussteuer gemacht.[10]

Les draps - das sind die Tücher, Stoffe, Hüllen, Wäschestücke wie Laken, Schleier, etc. Es handelt sich um - und man handelt damit, z.B. im Kontext einer Aussteuer - eine Art Wäschebündel, frz. trousseau[11]. Mit einem Wort, voilà (sieh da!), es handelt sich um voile/voile (identische Orthographie), einmal feminin und einmal maskulin, dt. einmal Segel, einmal Schleier, kurz: es handelt sich um den Stoff von Text-, Web-, Spinn- und Stickarbeit. Stop. Stichwort sticken, man höre, Zitat Orlan:

    Markierung von Spermaspuren mithilfe einer schlechten Stickerei auf besagten Tüchern, wobei die Stickerei meistens mit verbundenen Augen gemacht wird.[12]

Les draps: die Tücher, Laken, Hüllen: das Material - hier als Mitgift gegeben - das Material, das wesentlich seine eigene "Makulierbarkeit" absorbiert, und das heißt auch, sie ebenso schlecht verhüllt wie offenbart. Gleichzeitig und vielleicht nicht von ungefähr ist es der Stoff, der - ausgehend von Termini wie gr. a-letheia (Enthüllung, Entdeckung) - als Leinwand und inhaltliches Motiv eine Art parergonale Matrix bildet, d.h. eine Matrix als Rand und Rahmen, die aber im Inneren wesentlich partizipiert. Les draps als parergonale Matrix [13] also, Metapher und Metonym für ganze Filiationen von Kunst-theorien[14] , in denen "die Frau" repräsentiert wird, sich zeigt, indem sie eine - eben: - mehr oder weniger verhüllte Rolle spielt. Sie ins Dekor von Stoffrollen verhüllend, entwirft die Kunsttheorie ihre Konstruktionen "über die Frau" - siehe Nietzsche.[15] Les draps, hier also die Leinwand und der Stoff, der "die Frau" abschirmt und überspannt. Les draps enthüllen mit einem Wort eine Verhüllung - genauer: sie enthüllen - dévoilent - ihre eigene Verhüllung - voilement. Dabei kann es zu Rissen im Stoff kommen - nicht immer ohne Gewalt - violemment.
Les draps, diese Tücher, bilden den Untergrund, das Trägermaterial und ineins die prekäre weil poröse Oberfläche, die immer reißen kann und Spuren zeigt, wobei sie selbst ins Verschwinden gerät.

Denn im Jahr 1971, also zu einem früheren Zeitpunkt im Zug ihrer künstlerischen formation, umhüllt Orlan ihren Körper noch anhand von aufgebauschten, aufgeblähten draperies, üppig und wie mit Girlanden.[16] Wenn Orlan in der Folge ihrer performation - durch performances - ihren Körper aufschneiden, die Hüllen zerreißen läßt und den Anblick dessen offenlegt, was der traditionelle Diskurs eine De-Monstration von Monströsem nennen würde, dann ist dies in der Logik von voilement/dèvoilement und kein Phänomen des andererseits. Vielmehr wird hier wieder ein Nichtsehen sichtbar gemacht: Orlan setzt jetzt an ihrer Haut an, setzt ihre Haut ein, die Haut als draps/toile/voile, als zu beschreibende und zu beschneidende Leinwand. Die Haut wird geöffnet und zum eye-catcher für das, was vielleicht sichtbar, aber nicht anzusehen ist und damit blind zu machen droht. "...mithilfe einer schlechten Stickerei auf besagten Tüchern, wobei die Stickerei meistens mit verbundenen Augen ...": blindfolded.

Das Hören muß noch warten. Orlan gibt zu sehen, was blind macht: es mag dies mit jenem ruinös erhellenden Moment der Blindheit korrespondieren, dessen strukturelle Eingebundenheit in die Möglichkeit des Sehens Jacques Derrida in Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen[17] vorführt. Mit anderen, zu kurzen Worten: Sehen partizipiert in oder an etwas notwendig Blindem, um (sich) im Prozeß seiner Darstellung nie sehen zu können. Führen wir den Faden zu Orlan, fädeln wir ins Nadelöhr. Selbstportrait ist hier das zentrale Motiv, und es bleibt die Frage, was es zu sehen geben mag.
"... kann ich meinen eigenen Körper offen sehen ohne zu leiden! Ich kann mich bis auf den Grund der Eingeweide sehen ..." Zitat:

    L'art charnel ist eine Arbeit am Selbstportrait im klassischen Sinn, aber mit den technischen Mitteln unserer Zeit. Sie oszilliert zwischen Defiguration und Refiguration. Sie schreibt sich ins Fleisch ein, weil unsere Epoche uns das zu ermöglichen beginnt. Der Körper wird ein "modifiziertes Ready-made", weil er nicht mehr dieses Ready-made ist, das man nur noch signieren muß.[18]

Bei der Zeichnung eines Selbstportraits kann das zeichnende Auge, dessen prothetisches Instrument die zeichnende Hand ist, kann dieses Auge nie im selben Augenblick das zu zeichnende (Auge) sehen. Das Selbstportrait ist ein Beispiel par excellence für die dem Sehen eingeschriebene Blindheit. Diese Blindheit dirigiert - man erlaube mir diese Bemerkung am Rand - auch den Akt des Schreibens im Moment des Schreibens. Und wo es um Blindheit geht, steht nicht nur das Auge auf dem Spiel - aveugle: ab oculus (weg vom, ohne Auge) - im Gegenteil: Wo es um Blindheit geht, tauchen Hände auf, treten hervor, sie "manifestieren", präsentieren sich, oft mit fühlenden Fingern, um - etwa - vor dem Stürzen zu schützen. Besser noch: es manifestieren und präsentieren sich deren, der Hände, prothetische, handlich griffige Verlängerungen wie Stöcke, auch Taktstöcke gewissermaßen (man höre einen Blinden seinen Stock dirigieren), aber eben auch Stifte zum Schreiben - und dazu gehört das Skalpell des Chirurgen, notwendig nicht nur für Orlans "klassisches Selbstportrait im klassischen Sinn".

Vielleicht reicht an dieser Nahtstelle zwischen Blindheit, Selbstportrait und Orlans opérations-performances eine in den Text hoch- und hineingeliftete Fußnote: das Wort Chirurgie ist zusammengenäht - wie sonst - aus gr. kheir (Hand, hand, main) und urgia von ergon: Werk und Arbeit, work, oeuvre: das notoriöse oeuvre hängt dabei am genealogischen Wortfamilienfaden des lt. opera und weder - zumindest nicht auf dem kürzesten Weg - an ouvrir/couvrir (öffnen/ent-/bedecken), noch an offrir (geben, bieten, anbieten). Damit benennt das Wort Chirurgie nicht mehr und nicht weniger als das Werk der Hände: opération manuelle, manipulante [19], de manière plus ou moins manifeste, maintenant(e): jetzt, maintenant:: wörtlich: die Hand haltend. Wie etwa beim Zeichnen, zeigen, schreiben oder schneiden. Blinde operieren einleuchtenderweise also "emanent" handorientiert, will sagen: Was dem Blinden sein Stock, ist dem Chirurg sein Skalpell.
Aber auch dieser mögliche Zwischenauftakt bedürfte zur Erhellung eines langen Umwegs durch das hörbar dunkle Dickicht von Sehen, Schreiben und Schneiden - und deren Instrumente, prothetische Hände, die auch nur zu berühren hier nicht dem Takt der Zeit entspräche.

Bleiben wir beim stichpunktartigen Anreißen oder Anschneiden einiger Gesichts-Punkte - aber was heißt "nur" beim Stichpunkt Orlan? - und welche mag die passende Präposition sein für derlei Gesichtspunkte (point(s) de vue - keine Sicht, nichts zu sehen)? Gesichtspunkte zu, bei, an, auf oder in Orlan? Angehalten zu Abkürzungen, die das Englische nicht kurze Schritte, sondern "kurze Schnitte" nennt - short cuts - taste ich zum nächsten Punkt:
Es geht um Fragen, insbesondere um Fragen zu einigen Punkten, in denen Punkte und Punktierungen, Punktionen und Pointierungen, kurz: in denen Löcher und Höcker eine Sprache haben oder sein sollen, werden oder sprechen sollen, gesehen und gehört werden wollen. Denn, so Orlan (Zitat),

    L'art charnel transformiert den Körper in Sprache (langue) und kehrt das christliche Prinzip des Wortes, das Fleisch wird, um zugunsten des Wort gewordenen Fleisches; [...].[20]

Den Körper in Sprache transformieren, das Fleisch zu Wort werden lassen. Was für eine Art Sprache kann damit artikuliert - und das heißt hier und hier übersetzt - zu- oder aufgeschnitten werden? Bleiben wir kurz bei diesen Punkten. Zunächst mit dem Schreibgerät, das der OP-Stift ist, dann mit dem Skalpell, wird ihr Gesicht zu einem Nähschnittmuster gezeichnet. Diese Gesichtspunkte zeichnen, schneiden, stechen Orlan, diese nicht passive Patientin, die mit Ausrufezeichen schreibt, daß sie "ohne zu leiden" sieht, ihren eigen Körper offen sieht, ohne zu leiden! Die Vorstellung über das Sehen dieser Bilder kann einen mit Blindheit schlagen und hors langue treiben. Zitat Orlan:

    Es gibt wenige Bilder, die uns dazu zwingen, die Augen zu schließen: der Tod, das Leiden, die Körperöffnung, bestimmte Aspekte der Pornographie (für bestimmte Leute), oder, für andere, die Entbindung. Die Augen werden dabei schwarze Löcher, die das Bild unweigerlich absorbieren, Löcher, in die diese Bilder einströmen und ohne die üblichen Filter zu durchlaufen unmittelbar dort auftreffen, wo es schmerzt, so als hätten die Augen keine Verbindung zum Gehirn. (161, Herv. U.D.)[21]

Die Schnitte, die Orlan sich versetzen läßt, haben alles mit Löchern und Löcherungen zu tun. Auf den Punkt gebracht ist dieses Prozedere eine Serie von performations-perforations zu nennen. Und diese Perforierungen produzieren eine Sprache der Bilder, die blind machen oder sind, wenn nicht mehr noch.
Kurz: wie kappt dieser Karneval des Körpers den Blick, wie schießt er die Bilder so, daß die Augen vor Schmerz zu schwarzen Löchern werden? Und abgeschnitten vom Gehirn! Man beachte: dies geschieht angesichts einer Körperöffnung, einer Körperöffnung wie die Augenhöhlen. Diese Augenhöhlen, Löcher im Skelett, nichts als Löcher, geben den Augen ihren Ort, machen und lassen die Augen sehen, sie, diese Löcher sind deren mise en place, oder auch mise en scene. Aber hier ist von Bildern die Rede, die die Augen selbst zu schwarzen Löchern werden lassen und dazu zwingen, schreibt Orlan, die Augen zu schließen. Langsam. Wer oder was versetzt hier wem Löcher oder - in extensu - Schnitte, und wer oder was schreibt sie wem ein? Mit welchen Hör- und Seh-Effekten? Und der "Entbindung" welcher Art von Bildern?

Wenn es um das Bild einer Körpersprache geht, schärfer: um das Bild vom Fleisch des Körpers als Text, als Textbild oder Bildtext also, wenn es um Bilder geht, die die Augen zu "schwarzen Löchern" machen, zur blinden Kamera, dann sind es die Löcher selbst, deren Blindheit zu sehen und zu lesen sind. Zu lesen auch, wie Blindheit schlägt und umschlägt in eine gewissermaßen sichtbare Taubheit, die uns zum Ende noch auf den Leib rücken wird.
Ob Löcher oder ausgestülpte Höcker - der Unterschied liegt lediglich in der Innen- oder Außenperspektive: bei Orlan werden die Punkte, die den Körper zeichnen und perforieren, zu Blickpunkten im Gesicht, sozusagen zu emanenten Gesichtspunkten. Zu Gesichtspunkten eines Körpertexts, der seinen blinden Fleck durch die Lektüre einer Übersetzung vielleicht zu sehen gibt. Point de vue, mithilfe eines Ohrs.

Wo Bilder der Körperöffnung wie Bilder des Todes und des Leidens in schwarze Löcher einströmen oder -fallen, sind auch Tränen anzutreffen. Sie umhüllen den wunden Punkt, rettend fast. Denn unerträgliches schirmen sie ab, indem sie benebeln. Etwa die Unerträglichkeit einer Ein-Sicht, vor der sie schützen, indem sie das Sehen ertränkend erblinden - und anästhesierend-anästhetisierend ersticken, was sonst als zu bohrender - zu perforierender - Schmerz ins Schwarze einströmen könnte. Kurz: der Schutz besteht im Schnitt, im Ab-Schnitt vom Gehirn. Aber Tränen kann man nicht schneiden, sie bahnen sich andere Kanäle. Sie schlagen auf die Stimme und berauschen mitunter die Ohren.

Am Ende bleiben vielleicht noch die Ohren, denn Sprache ist blind. Und einzig und allein Orlans Stimme bleibt unverändert, das ist zu lesen, diese Membran ist nicht manipuliert, sie gilt als intakt. Immerhin ist Orlan bereit, während der Operation einen running commentary - sprach- und stimmlich also - über das momentane Geschehen zu liefern. Und sie liest vor. Sie liest Passagen der psychoanalytischen Essais aus dem Buch La robe - Das Kleid von Eugénie Lemoine-Luccioni -, in dem es ein Kapitel zu Orlan gibt. Und sie beantwortet per Satellit übertragene Fragen von spectateurs/auditeurs. Das heißt sie tut dies, soweit es die Griffe der Hand des Anderen, soweit es die Handgriffe des Ärzteteams gestatten. Als Auftakt zum Akt. Punkt, Zitat:

    Als Vorspann zu allen meinen Performance-Operationen lese ich also diesen Ausschnitt aus ihrem [Eugénie Lemoine-Luccioni] Buch Das Kleid, der zusammengefaßt folgendes besagt: [Zitat im Zitat Doppelpunkt Anführungszeichen:] "Die Haut ist enttäuschend [...] Im Leben hat man nur seine Haut [...] Ich habe die Haut eines Engels, aber ich bin ein Schakal [...] die Haut eines Krokodils, aber ich bin ein Wauwau [...], die Haut einer Frau, aber ich bin ein Mann; ich habe nie die Haut dessen, was ich bin. Es gibt keine Ausnahme von der Regel, denn ich bin nie, was ich habe [...]" (162, Herv. U.D.)

Dieser Kommentar kommt eher einem höchst fraglichen Motiv einer verzweifelt wenn nicht wahnhaft anmutenden Identitätsfindung gleich, aber ich überspringe diese nicht ganz unschuldige Haben-oder-Sein-Problematik hier. Dieser Kommentar scheint mir nämlich auch einen gänzlich anderen Text hervortreten zu lassen. Anders als der Text, in den sie ihren Körper zu travestieren beabsichtigt. Und zu fragen bleibt, wer hier was hört, was für eine Sprache, Zeichensprache, hört. Zitat Orlan:

    In den Bildern, die hinter mir ablaufen werden, werden Sie neben dem Ärzteteam und meinem team eine Spezialistin für die Zeichensprache der Taubstummen und Schwerhörigen sehen; diese Person hat die Aufgabe, uns daran zu erinnern, daß wir alle zu manchen Zeitpunkten taub und schwerhörig sind. Ihre Anwesenheit im Operationstrakt setzte eine Körpersprache in Szene. (161, Herv. U.D.)

Daß "wir alle zu manchen Zeitpunkten taub und schwerhörig sind", ist hier der Punkt, mit dem ich zum Ende komme. Daß "wir alle zu manchen Zeitpunkten taub und schwerhörig sind", sieht man auch an manchen Bildern, so man sie denn sehen kann, etwa an einem Bild, das Orlan so umschreibt:

    Verzeihung [Pardon - von lt. per-donare - etwas wird also durch und durch (per) gegeben oder auch angetan], daß dies für Sie nicht ohne Leiden abgeht [genauer übersetzt: Pardon, daß ich Sie leiden machen muß]: allerdings müssen Sie wissen, daß ich nicht leide; es sei denn wie Sie, wenn ich die Bilder ansehe. (161)[22]
    Pardon de devoir vous faire souffrir, mais sachez que moi je ne souffre pas; hormis comme vous, lorsque je regarde les images.[23]

"Sachez que moi je ne souffre pas - außer wie Sie [die spectateurs/auditeurs], wenn ich die Bilder ansehe". Orlan insistiert: "Sachez que moi je ne souffre pas". Dieser Stichpunkt ist im Plural zu hören, denn es handelt sich - und das nur im Vorfeld, d.h. hors acte, hors d'oeuvre, vor dem Werk sozusagen - um Einstiche; Injektionen, das englische shots trifft. Das sind ebenso kurze wie vielzählige piercing-Prozeduren. Schon das penetrierende Schrillen im Klang von piercing ist schmerzhaft für die Ohren.

Diese Einstiche sind es - précisément (oder "vorgeschnittenerweise") -, die andere Bilder, eine andere Sprache, hervortreiben, ausbrechen lassen im Prozeß einer Art ungewollter opération t raductrice. Ausbrechen lassen: engl. to surge, um den in diesem Moment noch anstehenden Doppelpunkt, die surgery (Chirurgie) selbst, nicht ganz aus den Augen zu verlieren.

Dieser andere Bildtext ist mein Schlußpunkt: es ist das Bild der Grimasse. Der Grimasse, die man wohlgemerkt schneidet. Die Grimassen, sagt Orlan, gibt es mehrere Male, weil es mehrere Einstiche gibt: Und so harmlos kommt der Satz daher: "Jeder kennt das. Es ist wie beim Zahnarzt, man macht kurz eine Grimasse. Es gibt mehrere Spritzen, also gibt es mehrere Grimassen." [24]

Les grimasses - "plusieurs piqûres, plusieurs grimasses". Diese Grimassen sind ein Bild, gezeichnet und bezeichnend genug, denn sie zeichnen ein anderes Gesicht und kennzeichnen es zum Ge-Sicht. Geschrieben steht da der Schmerz, der Orlan durchjagt, wenn ihr - und das ist nicht ohne fast hörbar stechende Logik - die Nadeln gesetzt werden Punkt. Es geht um den Schmerz durch die Nadeln, die den Schmerz nicht spüren lassen sollen. Oder besser: die Nadeln, die die Ohren den Schmerz nicht hören lassen sollen. Oder genauer: die punktierenden Nadeln, die diese merkwürdige andere auditive Wahrnehmung zeitweilig nageln. Nur: wer kann Ohren schon schließen. Es sei denn: durch die Sorte von shots, deren Zweck besticht: lokale Anästhesie: an-aisthesis - was man Betäubung nennt. Anästhesie, zu deutsch Nicht-, ohne oder gegen - hors - das Empfinden, das Wahrnehmen - aisthesis.

Das alles sagt uns Orlan, sie bringt es in Sprache, eine Sprache, die ein Bild sehen macht, das die Augen zu schwarzen Löchern erblinden läßt. Sie spricht mit ihrer Stimme, wie selbstredend und mehr denn hörend. Denn die Grimassen, dieses Bild einer gesetzten Handschrift der Prä- oder hors- Chirugie zeichnen etwas, sie lassen etwas aufblitzen. Etwas wird dargestellt, etwas bahnt sich seinen Weg und kommt - über den Umweg dieses grimassenhaften momentums das Auftakt ist, Ansatz, vor dem Anschnitt - zu einer Repräsentation, die sich im Bild der Entstellung des Gesichts manifestiert "Sachez que moi je ne souffre pas".
Übersetzung als Trauerarbeit: Das Fehl ist hier ineins als Punkt des Einstichs zu lesen, wiederholt durch die Pluralität der Löcher. Und aber auch als Exzess, als ein zuviel, an Schmerz. Verbildlicht, gefilmt, dokumentiert, reproduziert, bis zum Excess. Die Löcher, an deren Rand "ein Ausfall von Sprache indiziert ist", übersetzen sich ins Bild der Grimasse. Und immerhin artikuliert der Text dieses Bildes das paradoxe Moment dessen, was die Nadeln später zu elimnieren bezwecken: er artikuliert den Schmerz der Entschmerzung. Wenngleich kurz, so doch stechend. Was folgt, ist programmierte Taubheit. übersetzt wird der Schmerz - dieser Auftakt zum schwarzen Loch - in die Sprache eines Bildes, vor dem man die Augen schließt. Es ist ein Bild, das die Sprachlosigkeit der wieder und wieder wiederholten Momente vor und zur Betäubung übersetzt und damit den Moment des (Ab-)Schnitts vom Gehirn in ein Bild kippt. Da entsteht das Bild der Grimasse, sichtbar und ohrenbetäubend sprachlos.

Es wurde übersetzt. In eine Sprache. Sprache ist blind. Und hier, gleichsam und im Zug danach, wurde sie noch von den Ohren ihrerselbst abgeschnitten, wurde taub.
Es bleibt der Rest. Die Übersetzung ins Bild der Grimasse. Als Spur einer Vorträglichkeit - das perforierte vor, vor der so leidlosen opération-performance. Übersetzt ist damit ineins die Interpunktion, das Satzzeichen, das Ausrufezeichen, dieser Strichschnitt mit dem Punkt. "... ohne zu leiden!" Ausrufezeichen!
Er trifft dann anders (zu), verräterisch, revealing, entüllend, dévoilant, dieser andere Satz: "'La peau est décevante'" ("'Die Haut ist enttäuschend'"), zitiert nach Orlan, gezeichnet Orlan.

Hier zog die Haut ein Bild des Zuckens. Punkt. Übersetzer/Maler unbekannt. Nom propre hors-langue. Kunst der Anästhetik? Wo einem Sehen das Hören vergeht.

Ich danke fürs Zuhören.

 



ad 1) Ich danke Susann Schauz für ihre sorg- und vielfältig sprechenden Lektüren, die dieses Stück àmême l'&eacte;criture - und damit wesentlich - geprägt haben. <
ad 2) Vgl. Jacques Derrida, "Fors. les mots anglés de Nicolas Abraham et Maria Torok", Introduction à Cryptonomie: le verbier de l'Homme aux loups, Paris 1976, SS. 7-73. <
ad 3) Vgl. hierzu meine Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, München: Fink 1991, inbes. Kap. III. 2 "Übersetzungsarbeit als Trauerarbeit", SS. 89-110, sowie "Good Morning, Melancholia", in: Fragmente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse Nr. 44, Juni 1994. <
ad 4) Vgl. Sigmund Freud, "Trauer und Melancholie" (1915/17), in: Psychologie des Unbewußten, A. Mitscherlich (Hg.), Studienausgabe Bd. III, Frankfurt: Fischer 1982. <
ad 5) Vgl. Jacques Derrida, "Fors", op. cit. <
ad 6) Vgl. z.B. Alfred Hirsch, "Ethik der Trauer. Der Entzug des Anderen", in: Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne, L. Heidbrink (Hg.), München: Hanser 1997. Ich danke Ingrid Buchfeld für diese Anregung. <
ad 7) Ich danke Eva Horn für diese Formulierung. <
ad 8) Orlan, "L'art charnel", in: Sefkow (Hg.), Übergangsbogen und Überhöhungsrampe..., Hamburg 1996, S. 160. <
ad 9) Vgl. Eugénie Lemoine-Luccioni, La robe. Essai psychoanalytique sur le vêtement. Editions du Seuil, Paris 19??, Chap. IX, "Orlan", SS. 133-147. <
ad 10) "Les premières oeuvres ont été faites avec les draps de mon trousseau: [...]" Orlan, "ORLAN Conférence", 1995/97, S. 3. <
ad 11) Das semantische Um- und Vorfeld von trousseau ist fast unerschöpflich und erinnert fast an einen trou (Loch) in einem seau (Eimer): trousseau (m.) heißt zunächst Bund, Bündel, (Wäsche-)Ausstattung; donner un ~ : ausstatten; trousse (f.): Federtasche, Arztbesteck (!), Etui, ~ àpansements: Verbandtasche; ~ de couture: Nähzeug; trousser: aufbinden (Pferdeschwanz); packen: ~ bagage(s): plötzlich aufbrechen; ~ les femmes: die Frauen verführen; troussé: geschürzt; bien ~: hübsch aufgeputzt, gut getroffen (Kunstwerk). Etym.: lt. torquere: drehen, winden, verrenken.<
ad 12) "Repérage de traces de sperme àl'aide d'une mauvaise broderie sur les dits draps faite le plus souvent les yeux bandés." "ORLAN Conférence", op. cit., S. 3, Herv. von mir. <
ad 13) Vgl. Ulrike Dünkelsbühler, Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, München 1991. <
ad 14) Vgl. insbes. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks,...<
ad 15) Vgl. Jacques Derrida, Eperons. Les spurs de Nietzsche,...<
ad 16) "In 1997 she baptized herself 'Saint Orlan', festooning her body with billowing draperies made of black vinyl or white leatherette." Barbara Rose, "Is It Art? Orlan and the Transgressive Act", in: Art in America, Feb. 1993, S. 84. <
ad 17) Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, A. Knop /M. Wetzel üb., München 1997. Der französischer Titel ist wohlgemerkt Mémoires d'aveugle: L'autoportrait et autres ruines, Editions de la Réunion des musées nationaux, 1990.<
ad 18) "L'art charnel", op. cit., S. 160. <
ad 19) Vgl. Memoirs of the Blind, op. cit., S. 5. <
ad 20) "L'art charnel", op. cit., S. 160. <
ad 21) "Peu de sortes d'images nous obligent àfermer les yeux: la mort, la souffrance, l'ouverture du corps, certains aspects de la pornographie (pour certaines personnes) ou pour d'autres l'accouchement. Ici les yeux deviennent des trous noirs dans lesquels l'image est absorbée comme de gré ou de force, ces imgages s'engoufrent et viennent taper directement làoù ça fait mal, sans passer par les habituels filtres, comme si les yeux n'avaient plus de connections avec le cerveau." "ORLAN Conférence", op. cit., S. 2.<
ad 22) "L'art charnel", op. cit., S. 160. <
ad 23) "ORLAN Conférence", op. cit., S. 2.<
ad 24) "Cependant, tout le monde connaît cela: c'est comme chez le dentiste, on fait la grimace pendant quelques secondes... Il y a nècessairement plusieurs piqûres donc fe fais plusieurs grimaces..." "ORLAN conférence", op. cit., S. 15. (Herv. U.D.)<

 

 

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