double blind

Marion Denis

Marion Denis, double blind, 2010, 39 Silbergelatineprints, 11 c-prints, Interview
Die Arbeit ist eine kritische Untersuchung des Ursprungs von Wissen im biologisch-medizinischen Bereich. Es wird ein genauer Blick geworfen auf die naturwissenschaftlichen Prozesse, die sich mit dem chromosomalen Geschlecht beschäftigen. Am meisten interessiert dabei die Herstellung von wissenschaftlichen Tatsachen und die Wirkmacht von Normierungen. Mit welcher Methode soll das biologische Geschlecht erkannt und festgelegt werden? Wie und womit nehmen Forschende wahr? Wie produzieren sie ihre Bilder?
`double blind´ besteht aus sw-Fotografien, die von der Laborleiterin eines humangenetischen Labors fotografiert wurden, nach der Aufforderung, für ihre Arbeit wichtige Dinge abzulichten. Außerdem gibt es color-Fotografien, aufgenommen von der Künstlerin, die die Erstellung eines Karyogrammes (Chromosomendarstellung) im Labor verfolgen. Einen weiteren Teil der Arbeit bildet ein Gespräch zwischen Marion Denis und der leitenden Biologin um Erkenntnissuche und Laborerfahrungen. In Bildern und im Gespräch finden sich der künstlerische und der wissenschaftliche Blick wieder.
Das Projekt `double blind´ und das Künstlerbuch ‚double blind‘, Revolver Publishing, wurden gefördert von der
Kunststiftung NRW.

Marion Denis, double blind, 2010, 39 Silbergelatineprints, 11 c-prints, Interview

Ausstellungsansicht ‚double blind‘, Fotomuseum Winterthur, ‚Cross Over – Fotografie der Wissenschaft + Wissenschaft der Fotografie‘, 2013, kuratiert von Christin Müller, Katalog erschienen bei Spector Books, Leipzig

`double blind (Fotografien einer Humangenetikerin)´, 2010

‘double blind (Interview Künstlerin – Biologin)´, 2010
Marion Denis: Wenn ich Chromosomen von außen betrachte, sind es für mich unterschiedlich lange Streifen. Insofern unterscheiden sie sich nicht so stark. Es sei denn, da wäre eine runde, eine quadratische oder eine dreieckige Form dabei; dann wären die Unterschiede stärker. Wenn man sie nur als Form betrachtet, ähneln sich die Chromo-somen aber schon.
Biologin: Der Mensch hat dreierlei Chromosomentypen: die metazentrischen, die submetazentrischen und die akrozentrischen, mit dieser z.T. sehr auffälligen Satellitenstruktur (Bildschirm). Das ist ein sehr deutlicher Unterschied. Ein Chromosom ist in gewisser Weise stäbchenförmig oder linear; es hat ein Zentrum, das sog. Zentromer. Wir sehen hier (Bildschirm) – in diesem Stadium – nicht, dass sie in sich gespalten sind; wenn sie sich aber weiter kondensieren, d.h. im Verlauf des Zellzyklus, verkürzen, dann würden sie diese x-Form bekommen. Die Strukturproteine, die diese beiden homologen, identischen Schwesterchromatiden zusammenhalten, ihre Funktion aufgeben. Das weitere Fortschreiten in der Mitose wäre, dass sich die beiden Schwesterchromatiden vollständig trennen und auf die zwei neuen Tochterzellen verteilt werden. Das hier, die Metaphase, ist sozusagen eine Momentaufnahme. Du hast recht, es gibt keine runden Chromosomen. Aber, es gibt – submikroskopisch – runde Strukturen, es gibt lineare Strukturen. Aber, es gibt keine eckigen Strukturen; es gibt in der Natur relativ wenig quadratische Strukturen; wahrscheinlich weil das verhältnismäßig instabil oder vom Energieaufwand nicht geeignet wäre. Es verbraucht zuviel Energie in der Herstellung und bringt im gleichen Rahmen nicht ausreichend Stabilität. Deswegen hat man dreieckige Strukturen oder Wabenstrukturen, weil das stabiler ist. Aber im Prinzip ist es eine Annäherung an rund; und wenn ganz viele runde Strukturen dicht zusammenkommen, dann kommt man der Wabenstruktur immer näher. Ich weiß, was du meinst, wenn Dir zunächst alles sehr gleichförmig erscheint. Mit der Zeit erlangt man in der zytogenetischen Arbeit eine andere Sichtweise. Ich sehe da unheimliche Unterschiede, aber das Sehen muss sich erstmal entwickeln – über Jahre.
M.D.: Da würde meine nächste Frage ansetzen. Nämlich: Wie hast du dieses Erkennen gelernt, dieses Ablesen?
B.: Bei mir selber kann ich mich kaum dran erinnern. Ich hab 1986 angefangen, Chromosomen zu betrachten. Während der Schulzeit haben wir das humangenetische Institut besucht und ich hatte Bio-Leistungskurs. Also ist da schon der Fokus auf Naturwissenschaften. Es war nicht besonders berauschend oder eindrücklich dort im Institut, aber für mich war klar: ich möchte in die Humangenetik. Alles andere ist deskriptiv. Und das ist wirklich die Struktur, wo es geschrieben steht. Meistens wird Symptomdoktorei gemacht, aber man muss an die Ursachen ran. Und für mich ist das sozusagen ursächlich gewesen damals, Anfang der 80er Jahre. Dann hab ich das ganze Studium so ausgerichtet, um in die Humangenetik zu kommen, um damit Kontakt zu haben, und war in einem Praktikum, wo ich mir homogengefärbte Chromosomen angeguckt habe. Ich habe ganz hart lernen müssen, zuerst Chromosomen zu erkennen, überhaupt auf eine Mitose und auf ein Präparat zu gucken. Die Abbildungen hatten natürlich eine andere Qualität als heute. Im Zuge der Weiterent-wicklung von Kulturmedien ist alles qualitativ besser und hochwertiger geworden. Das erste war ein Präparat, das irgendwo in der Routine abgefallen ist, also ein Forschungsprojekt, das keiner weiter machen wollte. Dann kommt ein Student der ein Blockpraktikum hatte, dem man endlich mal etwas überantworten konnte, was sonst keiner machen will. Und ich hab wirklich sechs Wochen lang in der Dunkelheit gesessen und mir angeeignet, wie Mitosen im Gegensatz zu Kernen aussehen, wie vollständige Mitosen aussehen; und ich musste anfangen zu lernen, sie zu zählen. Als nächstes musste ich in einem homogengefärbten Präparat das X-Chromosom erkennen. Die C-Gruppe ist sehr einheitlich; und dann habe ich bei jeder Mitose, die ich angeguckt habe, überlegt, was könnte es sein, habe dann meine spätere Doktormutter jedesmal geholt – meine Beliebtheit bei ihr sank von mal zu mal – und sie musste sich das mit angucken; ich habe gesagt, folgendes könnte es sein, und dann hat sie mir gesagt: das glaube ich nicht. Es war eine harte Schule, an homogenge-färbten Mitosen ein C-Banden-Chromosom herauszufinden, weil das 14 Dinger sind wenn es weiblich ist, die sehr gleich aussehen. Und dann zu differenzieren. Aber ich glaube es war eigentlich der beste Einstieg. Ich kann mir keine Vokabeln mir merken, ich bin schlecht in Sprachen, aber ich glaube, was visuelle Dinge angeht bin ich gut. Und das sehen wir auch bei Studenten; es gibt welche, die schauen darauf und finden Chromosom 22 und 1 nicht zu unterscheiden, und es gibt welche die sehr sehr schnell sogar Paare legen können im ersten Karyogramm. Und ich habe Glück gehabt, dass ich nicht nur Humangenetik gut gefunden habe, sondern dass ich auch ein ge-wisses Talent habe, Strukturen erkennen zu können. Das ist ein bisschen wie Memoryspielen. Ich schaue ja nicht auf ein Karyogramm, ich schaue auf die ungeordnete Mitose, merke mir, ah, da ist das eine Chromosom 6 und gucke die ganze andere Mitose durch, wo ist das andere Chromosom 6, um dann noch zu wissen, wo das erste lag in dem Wirrwarr, und um sie dann miteinander zu vergleichen. Wenn das eine gebogen ist, auf dem Kopf liegt. Beim Memory sagt man ja immer, Kinder schlagen einen, aber ich schaffe es auch noch gegen 4 und 5jährige. Weil es die dauernde Arbeit ist.

Marion Denis (*1973) arbeitet vorwiegend mit fotografischen Mitteln. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit der biologischen Konstruktion und kulturellen Normierung von Geschlecht. Sie studierte an der FH Bielefeld bei Katharina Bosse und an der HGB Leipzig bei Tina Bara. Das Projekt ‘double blind’ und ein gleichnamiges Künstlerbuch (2012, Revolver Publishing, Berlin) entstanden mit Förderungen der Kunststiftung NRW. Zuletzt zeigten das Fotomuseum Winterthur (Schweiz) und die Art Biennial Luleå (Schweden) ihre Arbeiten.