Aus dem Reader
zu dem Vortrag
Artificial Life
von Claudia Reiche
aus "Lebende Bilder" aus dem Computer

Claudia Reiche

Artificial Life
aus: "Lebende Bilder" aus dem Computer, Konstruktionen ihrer Mediengeschichte

...In der Veröffentlichung der Ergebnisse der Gründungskonferenz dieser Forschungsrichtung 1987 heißt es:

"Innerhalb von fünfzig bis einhundert Jahren wird voraussichtlich eine neue Klasse von Organismen  entstehen. Diese Lebewesen werden in dem Sinne künstlich sein, als sie von Menschen gestaltet wurden. Dennoch werden sie sich fortpflanzen und in Formen umwandeln, die anders als ihr Ursprung sind. Sie werden "leben", in des Wortes eigentlicher Bedeutung1  oder auch:
Leben ist nicht eine Ansammlung von Materie, sondern das, was diese Materie organisiert. Noch unbekannte Regeln der Komplexität leiten Materie zum Leben, und das Resultat zeigt viele verschiedene Gestalten und Verhaltensweisen, die wir alle guten Gewissens als lebendige identifizieren können. Durch  die Wiederentdeckung dieser Prinzipien, durch die richtige Anwendung von Mathematik und Informatik, können wir Bilder - und letztendlich Organismen - herstellen, die sich aus eben diesen Prinzipien mit genau der gleichen Sicherheit ableiten lassen."2

Was "lebt", das ist scheinbar leicht zu bestimmen, folgt man diesen Ausführungen. In einer Analogie werden mehrere Möglichkeiten genannt: "Lebend" ist eine bestimmte Organisationsform. "Lebend" wären "verschiedene Gestalten und Verhaltensweisen". "Lebend" wären "Organismen". Und "lebend" wären dann auch "Bilder". Die verbindende Voraussetzung, die auch Bildern hier "Leben" zusprechen kann, formuliert sich bündig als dessen mathematische Basis: "Die grundlegende Kategorie des Lebens ist Information."3

Die Trägersubstanz dieses "Lebens", das als Informationsstruktur gekennzeichnet ist, gilt als variabel. Nur so werden die Begriffe "Organismus" und "Bild" auswechselbar, wie es im vorigen Zitat durchgespielt wurde. Nur, was das dann für ein "Bild" ergäbe - ein materieller Träger einer bestimmten Informationsstruktur, dem da "Leben" attestiert wird, das scheint die schwieriger zu behandelnde Frage zu sein. Denn die für das Forschungsgebiet essentielle Voraussetzung einer Austauschbarkeit "materieller Träger" des "Lebens" verknüpft sich notwendig mit einem Sprachspiel, das eine Austauschbarkeit materieller, jetzt sprachlicher "Träger" der alles vereinenden Kategorie "Information" produziert. Dargestellt werden soll dieses Sprachspiel hier in Form einer Geschichte, der Geschichte des Wortes "Life" im Namen des Forschungsgebietes "Artificial Life".

Die gegenwärtigen Forschungen zum "Artificial Life" gehen auf Ideen des Mathematikers, Computerpioniers und Begründers der mathematischen Spieltheorie John von Neumann zurück. Die Regelsysteme und Computerprogramme, die zunächst "künstliches Leben" zu erzeugen in der Lage sein sollten, basierten auf dem Prinzip "zellulärer Automaten". Die von Neumann begründete "Theorie der Automaten" 4  geht davon aus, daß Computer wie Menschen als zwei verschiedene Klassen von Automaten gedacht werden können, deren Verhalten mathematisch zu bestimmen sei. "So muß ich bitten, diese Übervereinfachung des Systems anzunehmen. ...Ich betrachte lebende Organismen wie rein digitale Automaten."5  Auf dieser Grundlage war für einen "zellulären Automaten" ein System von Regeln gefordert, das zur Selbstreproduktion und zur Selbstorganisation ebenso fähig sein sollte, wie ein Lebewesen, ein sogenannter "natürlicher Automat". Den zellulären Automaten liegt nun die Vorstellung eines potentiell unendlichen 2dimensionalen Gitters zugrunde, bei dem jedes Gitterfeld als einzelne "Zelle" mit bestimmten Zuständen oder Verhaltensweisen aufgefaßt wird, die gemäß allgemein festgelegten Spielregeln und den Zuständen der umliegenden Zellen ihren Zustand im Takt jedes Spielschritts neu definiert.

 

Game of LIFE

Ende der 60er Jahre wurde von dem Mathematiker John Conway ein solcher zellulärer Automat: als Spiel mit einfachen Regeln realisiert. Zunächst wurde es mit Spielsteinen auf einem Tisch gespielt, bevor es dann in ein Computerprogramm übertragen wurde. Das legendäre Spiel von Conway mit dem Namen  "LIFE" 6  wird als "universelle Maschine"7  begriffen, die alle beschreibbaren Probleme aller Automaten simulieren könne und gilt zudem als "eine große vereinheitlichende Theorie des Universums"8. Denn es besteht die These, daß "LIFE" das "Leben" selbst simulieren könne. Eine umfassende Einführung in Regeln und Eigenschaften dieses Spiels, sowie die Geschichte seiner Erforschung sind von John Conway unter dem Titel: "Was heißt "Leben"?9   "veröffentlicht. Dieser Aufsatz beginnt damit, die Regeln des Spiels "LIFE" in Form von "ein paar aufklärende(n) Worte(n)" über das "Leben" vorzustellen.

Diese Regeln geben an, daß die einzelnen "Zellen" des Gitters, das als Spielfeld dient, sich in zwei verschiedenen Zuständen befinden können, die als "lebend" oder "tot"10  bezeichnet werden. Jede "Zelle" hat acht mögliche Nachbarn und kann nur dann den nächsten Taktzyklus "überleben"11, wenn zwei oder drei Nachbarn gleichfalls leben. Hat sie mehr lebende Nachbarn, stirbt sie an "Überbevölkerung", und gibt es weniger als zwei lebende Nachbarn, stirbt sie an "Vereinsamung". Wenn eine Zelle auf diesem Spielfeld abgestorben ist, bleibt sie solange tot, bis sie drei lebendige Nachbarn besitzt und sie wieder "geboren"14  wird.

Das Spiel beginnt auf einem möglichst großen Feld durch die Setzung irgendeiner Figur, das heißt durch die willkürliche Bestimmung, welche "Zellen" "leben" und welche "tot" sind. Die folgenden Entwicklungen der "Zellen" ergeben sich dann in strenger Zwangsläufigkeit allein aus den genannten Spielregeln. Nach einigen Taktzyklen bilden sich stabile und periodisch veränderliche Muster heraus. Ein markantes Beispiel eines solchen Musters bildet der sogenannte glider, dessen Gestalt sich innerhalb von vier "Generationen", wie die Taktzyklen auch genannt werden, wiederholt, allerdings verschoben um ein Gitterfeld in diagonaler Richtung. (Abb.4)
4 Generationen eines GLIDER
      Abb. 4: "LIFE": 4 Generationen eines glider15

 

Die Entdeckung einer gleichmäßig sich bewegenden Anordnung war von großer Bedeutung für den Beweis, daß das Spiel "LIFE" jeden anderen Automaten simulieren könnte, gleichgültig ob er elektronischer oder natürlicher Art ist. Wenn "LIFE" als ein Automat mit universeller Rechenfähigkeit arbeiten würde, könnte mithilfe dieses "LIFE"- Rechners jeder physikalische Prozeß in Form rechnerischer Abläufe dargestellt werden, und somit auch jedes biologische System. Um den Beweis einer universellen Rechenfähigkeit für "LIFE" anzutreten, wurden verschiedene interagierende periodische Muster benötigt, um auf dem Spielfeld logische Elemente eines Computers wie Schalter, Uhr und Speicher darstellen zu können. Es gelang durch inszenierte Kollisionen von gliders neue glider zu produzieren, die selbst weitere Interaktionen der Konfigurationen erzeugten.Unter Verwendung von regelmäßig periodischen streams of gliders, die als Folge von Bits aufgefaßt wurden, konnten "Und-" "Oder-" und "Nicht-" Schalter simuliert werden, sowie auf dem "LIFE" Spielfeld ein Analogon eines Computerspeichers konstruiert werden. Tatsächlich wurde so der Beweis geführt, daß das Spiel "LIFE" eine "universelle Maschine" ist.

Für die Behauptung "Es gibt "LIFE"-Konfigurationen, die sich wie selbstreproduzierende Lebewesen verhalten"16, beansprucht John Conway mehr als eine spielerische Gültigkeit. "LIFE" erhält den Status einer mathematischen Theorie über die Entstehung des Lebens und die Evolution der Arten, die bei einer geglückten Durchführung im Spiel "LIFE" als bewiesen gelten würde. Aber was bedeutete ein solcher Beweis? In John Conways Darstellung nichts weniger als die tatsächliche <biologische> Entstehung neuen Lebens:

"In einer hinreichend großen zufälligen 'Ursuppe' muß, einfach per Zufall eine selbstreproduzierende  Konfiguration herumschwimmen. Ist sie besonders gut angepaßt, so wird sie allmählich ihr Territorium  bevölkern. ... Für diesen Evolutionsprozeß scheint es keine Grenzen zu geben. Hat man einen hinreichend  großen Lebensraum in zufälligem Zustande, so werden nach langer Zeit intelligente, selbstreproduzierende  Lebewesen entstehen."17

Insofern sollen sich mithilfe von "LIFE" Bildung, Zerfall und Mutationen von Populationen biologischer Organismen als visualisiertes Datenprocessing erforschen lassen. Die Rolle des Zufalls in dieser digitalen "Evolution" bleibt auf die "zufällige", genauer: beliebig gewählte Ausgangssituation des Spiels beschränkt. Der Zufall, wie er sich im tatsächlichen Evolutionsprozeß manifestiert, zum Beispiel allein in spontanen Mutationen des Erbmaterials, kommt im Spiel "Life" nicht vor. Alle Möglichkeiten für "Zufälle" oder "Rechenfehler" im angenommenen Evolutionsprogramm müßten systematisch durch neu begonnene Spielsituationen erfaßt werden. In diesem Sinne wäre die Argumentation John Conways zu überdenken, daß "LIFE" potentiell jedes bekannte Tier hervorbringen kann, ebensowie unendlich viele unbekannte.

"In einem ausreichend großen Maßstab müßte man wirklich lebende Anordnungen erkennen können.", zitiert ihn Steven Levy aus einem Interview, "lebend in des Wortes eigentlicher Bedeutung, welche  Definition man auch verwenden mag. Sie würden sich entwickeln und vermehren, sich um Territorium  streiten, immer intelligenter werden und schließlich sogar ihre Doktorarbeit schreiben".18

Conway, der Vater des Spiels, hätte sich dann schon vorab seinen Platz in diesem mythischen Territorium angewiesen: den Platz Gottes. Allerdings fehlt in seinen Voraussagen eines neuentstehenden künstlichen Lebens eine Beziehung zu der grundsätzlichen sprachlichen Spielregel von "LIFE", die ja spielimmanent die Bezeichnungen "lebend" und "tot" für die zwei möglichen Zustände der Zellen forderte. Die Unterscheidung zwischen dem im Spiel so genannten, also fiktiven Zustand "lebend" und den "lebenden Anordnungen in des Wortes eigentlicher Bedeutung" gilt in Conways Argumentation als überwunden, und zwar durch die besonderen mathematischen Eigenschaften des Spiels. Diese Leistung von "LIFE" kann auch so formuliert werden, daß in Conways Aufsatz "LIFE" die Anführungszeichen des von ihm erzeugten "Lebens" überwindet, womit auch die Antwort auf die Titelfrage "Was heißt "Leben"?" bereits genannt wäre.

Wie nun ein derartiger Übergang von gesetztem "Leben" zu einer Evolution lebender Organismen in der Darstellung vollzogen wird, verlangt eine genauere Betrachtung, besonders in Hinblick auf die Funktion der Bildlichkeit. Zunächst: Wie paßt zu einem vorausgesagten Leben auf dem "LIFE"-Spielfeld die grundlegende Eigenschaft des Spiels, die darin besteht, daß "LIFE ... wirklich unvorhersehbar" ist ? Mathematisch nicht vorhersehbar, das heißt, daß nur anhand von durchgeführten Simulationen jeder einzelnen Generation die periodisch wechselnden und stabilen Gestalten berechnet und 'erkannt' werden können. Beobachtet wird am Monitor die komplexe Musterbildung, um neue Konfigurationen im bewegten Gesamt-Muster der Spielfläche zu sehen und zu benennen, ganz als ginge es darum, eine neue Tierart mit spezifischem Verhalten zu "entdecken" und ihre Genese und ihr Verhalten zu bestimmen.

Diese Art der Beobachtung von Rechenprozessen einer Maschine verlangt selbst methodische Aufmerksamkeit. Als eingefügte Anekdoten, als Alltagserzählungen werden die visuellen 'Entdeckungen' neuer Spezies im Spiel "LIFE" in den wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Darstellungen eingefügt. Im Gestus der Beiläufigkeit, wie zur bloßen Veranschaulichung strenger Wissenschaft tauchen diese Erzählungen auf, jedoch regelmäßig und in konzeptionell entscheidender Funktion. Signifikant erscheint hier ein vielfach kolportierter Ausruf, der die Entdeckung des glider anzeigt: "Da schaut mal her, hier ist ein Ding, das läuft!" . Weiter heißt es - wie eine Anweisung zum Sehen: "Wenn Sie "LIFE" in vernünftigem Tempo auf dem Bildschirm eines Computers ablaufen sehen, dann bemerken Sie, daß sich der Gleiter mit ziemlich verführerischem Hüftschwung bewegt."

Vorstellbar ist der "verführerische Hüftschwung" im Medium des Textes: denn beschrieben wird an den errechneten Mustern ein filmischer Effekt wie bei einem gezeichneten Trickfilm. Das "2dimensionale Gitter" mathematischer Herkunft ist plötzlich zu einem Bild, einer gegenständlichen Abbildung geworden, dessen "lebende" oder "tote" "Zellen" zu Bildpunkten, der Computermonitor zum Fernseher. Eine phantasmatische Belebung des bewegten Musters, ein Wiedererkennen einer menschlichen Gestalt zeigt sich in der Sprache an, das hier gesehene "Leben" scheint insofern nicht in mathematischer Anschauung gedacht zu werden, sondern filmischen Kriterien zu unterliegen. Das 'Leben' der vom Spiel "LIFE" erzeugten Muster kann so als ein zweifaches und paradoxales bezeichnet werden. Denn das Wiedererkennen anthropomorpher Muster und 'lebendiger' Bewegung steht in keinem reflektierten Verhältnis zu der mathematischen Argumentation, daß das Spiel "LIFE" Leben erzeugen könne. Zu vermuten wäre hier der Beitrag einer filmischen Gestalt- und Bewegungstäuschung zu der starken "Lebens"-These Conways, die auch die Formulierungen des "Artificial Life" bestimmt hat.

Aber auch jenseits eines Wunsches nach Anschaulichkeit abstrakter Muster gibt es Gründe, ein Faszinosum, das in den sechziger Jahren gerade von diesem Spiel ausgegangen sein muß, mediengeschichtlich zu kommentieren.  Einen wichtigen Faktor bei der Erforschung des Spiels stellt die Zeit dar. Schnellere Rechner können längere Generationsfolgen der "LIFE" - Zellen, oder auch größere Spielfelder zur Beobachtung bereitstellen. Mit der Entwicklung eines kleinen, speziell für das Spiel "LIFE" konstruierten Rechners durch Tomasso Toffoli und Norman Margolus  wurde eine tausendfach erhöhte Spielgeschwindigkeit erzielt. Dieser Fortschritt bildet sich in den begeisterten Darstellungen nun in Gestalt eines historischen Vergleichs ab: "Es war wie der Unterschied einer Serie von Einzelphotos und einem Film.".

Schlußfolgerungen aus dieser Wahrnehmung zieht folgende Darstellung:
 Ein System sich derart schnell entwickeln zu sehen, erzeugt natürlich einen ganz anderen Eindruck als die  Bildfolge auf einem langsameren Gerät. Statt einer Folge von Standbildern erlebt man einen Film. ... So  erscheint das Spiel des Lebens nicht mehr als statische Progression abstrakter Muster. Weit eher gleicht  es einem Blick durchs Mikroskop auf Bakterien und Urtierchen, die hektisch durcheinanderwimmeln, sich  teilen, fressen und gefressen werden.

Daß eine Vielzahl von späteren Programmen des "Artificial Life" nun weiterhin sogenannte "biomorphe" Formen, also abbildlich ähnliche Formen, Bewegungsabläufe von Lebewesen entstehen lassen wie bei einer filmischen Aufzeichnung ist im Zusammenhang mit der umfassenden Geltungsbehauptung dieser Programme, dem zugeschriebenen "Leben", von größter Bedeutung. Durch die graphische Erzeugung z.B. einer wachsenden Pflanze, eines Insekts oder eines schwirrenden Vogelschwarms in den "Artificial Life"-Visualisierungen, die an den abbildlichen Realismus insbesondere der Bewegungswiedergabe eines Films erinnert, ist eine neue Funktion des "Bildes" entworfen.
Der wissenschaftliche Anspruch der Bildlichkeit des "Artificial Life" besteht darin, abbildlich ähnliche Formen lebender Organismen im Rechner zu generieren, und zwar durch die algorithmische Übersetzung und Visualisierung bestimmter "innerer", struktureller Eigenschaften. Theoretisch werden so alle bisherigen Leseweisen des Bildes außer Kraft gesetzt, indem diese neue Abbildlichkeit nicht mehr allein in einer sichtbaren, sondern ebenfalls in einer 'inneren', unsichtbaren €hnlichkeit gründet, die jedoch selbst visuell überprüft wird. Als ein Skandalon wirkt diese neuartige, doppelte und widersprüchliche €hnlichkeitsbeziehung zwischen Abgebildetem und Abbildung, da sie die Frage nach dem Ursprung verwirrt, - eine Ungewißheit, die mit der skandalösen Behauptung gelöst werden soll, daß bestimmte Programmabläufe selbst zu "Lebewesen" erklärt werden. Diese Identifizierung zwischen Abbildung und Abgebildetem im Bereich "Artificial Life" motivierte jedoch bereits die längst vergangene Rede vom "lebenden Bild" des Films.
 Genetik des Bildes
Zugespitzt manifestiert sich diese Wiederholung einer medientheoretischen Verkennung zugunsten naturalisierender Bildeffekte, wenn eine Identifizierung von "genetischem Code" eines Lebewesens und einer spezifischen Datenstruktur in einem Simulationsprogramm vorgenommen wird, das dann die Gestaltentwicklung dieses Lebewesens bildlich reproduzieren soll. So vertritt zum Beispiel der Physiker und 'Artificial Life' Forscher Stephen Wolfram die These "daß man die Entwicklung eines biologischen Organismus aus seinem genetischen Code durch die Verfolgung jedes einzelnen Entwicklungsschritts [ausgehend vom Startpunkt eines Simulationsprogramms] bestimmen" könne.
Als "neue Denkweise in den Naturwissenschaften" stellt Wolfram dar: "Wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten interpretiert man heute algorithmisch; man untersucht viele naturwissenschaftliche Zusammenhänge mit Hilfe von Computerexperimenten."  Solche naturwissenschaftliche Forschung könnte in der Tat als Novum gelten, denn sie erforscht die neuartige errechnete Bildlichkeit wie Natur. Die Bildlichkeit insbesondere biomorpher Formen aus einem Programm des 'Artificial Life' bewegt sich in einem neuen Definitionsraum: sie gilt zugleich als Rechnung und Bild, abstraktes Muster und konkretes Abbild, Dokument eines Rechenprozesses und filmische Abbildung eines Lebewesens. Sie beansprucht zugleich "genetischer Code" und dessen prozeßhafte Realisierung als graphische Computeranimation zu sein - das "Leben" selbst.
Unsichtbares und Sichtbares müssen in solcher Form des 'Artificial Life' als ein direktes und bestimmbares Übersetzungsverhältnis gedacht sein, von Programm und Visualisierung, von Code und sichtbarer Realisierung dieses Codes. Die Bildfunktion der "Artificial Life"-Forschung bestimmt nicht nur biologische Forschung neu, sondern ebenso die erforschte 'Natur' und wieder einmal das "Leben" - nach dem Bild der neuesten bilderzeugenden Medientechnik. Dies aktuelle "Leben", innerhalb wie außerhalb der Rechner, wird gedacht als "Programmablauf" und dessen sichtbare Erscheinung identifiziert mit den Prozessen des zugrundeliegenden Programms. Jeder biologische Organismus ist unter der Maßgabe dieses neuen Bildbegriffs als Realisierung seiner Informationsstruktur zu denken.
Die medientechnische Wahrnehmungstäuschung, die um die Jahrhundertwende dazu verleitete, sichtbare Bewegung in einem Bild als "Leben" anzusehen, findet in dieser Denkweise keine theoretische Berücksichtigung. Wie an den einzelnen Beispielen gezeigt, ist es wieder die alte Wirklichkeitsillusion der filmischen Bewegungshalluzination ist, die zum neuen "Leben" der Computersimulationen des "Artificial Life" beiträgt. Daraus folgt, daß diese computerbasierte Naturwissenschaft in umfassender Weise mit dem übersehenen Bereich der Medientheorie zu konfrontieren sein wird.
Unter diesem Gesichtspunkt kann die "Artificial Life"-These einer Identität von Informationsstruktur und "Leben" gerade in ihren bildlichen Belegen als Trickfilm und in diesem Sinn als Fälschung wirken. Die vielfältigen Musterbildungen des Spiels LIFE könnten wie visuell interessante Animationssequenzen gesehen werden, die "Hüftschwünge" der glider wie ein vervielfältigter Totentanz der Bilder. War es doch gerade der Film, der die Differenz und nicht die Identität zwischen wahrgenommenem Bild und medientechnischer Struktur lehrte.
Infragegestellt würde so die Identifikation von Information und Sichtbarkeit, wie sie die "Artificial Life"-Forschung vornimmt, denn indem die Bildlichkeit selbst übersehen wird, erscheint stattdessen "Leben". Eine Erscheinung mit Rückwirkungen, denn die neue naturwissenschaftliche Denkweise, die die "Artificial Life"-Forschung entwirft, sieht auch einen lebenden Organismus als "lebendes Bild" an, z.B. als virtuelle, 3dimensionale Visualisierung seiner Daten.

ad 1) Steven Levy, KL - Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993, 11. <
ad 2) Steven Levy, KL - Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993, 294-295. <
ad 3) Ed Fredkin, zitiert von Steven Levy, Steven Levy, KL - Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993, 82. <
ad 4) Vgl. John von Neumann, "Allgemeine und logische Theorie der Automaten" (1951), Kursbuch 8, März 1967, Neue Mathematik, Grundlagenforschung, Theorie der Automaten, 139-175. <
ad 5) John von Neumann, "Allgemeine und logische Theorie der Automaten" (1951), Kursbuch 8, März 1967, Neue Mathematik, Grundlagenforschung, Theorie der Automaten,149. <
ad 6) Elwyn R. Berlekamp, John H. Conway et al., Gewinnen - Strategien für mathematische Spiele, Band 4: Solitärspiele, Braunschweig 1984, 123-155; Kunstforum international 129, Jan.-April 1995, Florian Rštzer, "Alles ein Spiel mit tšdlichem Ausgang? Vom Homo Ludens zum Ludo globi", 65-70. <
ad 7) "Universelles Automatenmodell, das 1936 vom britischen Mathematiker A.M. Turing vorgeschlagen wurde.","Eine universielle Turingmaschine kann also wie ein computer <programmiert>, d.h. mit der Beschreibung eines Algorithmus versehen werden und somit beliebige Algorithmen berechnen. Ein Computer ist in diesen abstrakten Sinne nichts anderes als eine universelle Turingmaschine." Duden, Informatik, Manheim 1993, 737 und 750. <
ad 8) Steven Levy, KL - Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993, 69. <
ad 9) Elwyn R. Berlekamp, John H. Conway et al., Gewinnen - Strategien für mathematische Spiele, Band 4: Solitärspiele, Braunschweig 1984, 123-155. <
adad10) - ad 14 )Elwyn R. Berlekamp, John H. Conway et al., Gewinnen - Strategien für mathematische Spiele, Band 4: Solitärspiele, Braunschweig 1984, 123. <
ad15) Geradezu als Modell aller Konfigurationen zweidimensionaler Zellularauromaten wirkt der "glider" noch heute in der Begrifflichkeit des Artificial Life weiter. "For simplicity I will call all such configurations gliders Though their velocity may vary between zero and the system <speed of light>", Andrew Wuensche, The Ghost in the Machine: Basins of Attractions of Random Boolean Networks ", in Artificial Life III Proceedings of the Workshop on Artificial Life 1992, hrsg. von Chritopher G. Langton, Santa Fe, Reading MA, 1994, 473.<
ad16) Elwyn R. Berlekamp, John H. Conway et al., Gewinnen - Strategien für mathematische Spiele, Band 4: Solitärspiele, Braunschweig 1984, 123.<
ad17) Elwyn R. Berlekamp, John H. Conway et al., Gewinnen - Strategien für mathematische Spiele, Band 4: Solitärspiele, Braunschweig 1984, 154.<
ad18) Steven Levy, KL - Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993, 75-76.<

  'Lebende Bilder' aus dem Computer
 
 Matter Transform SequencesTM
 
mehr im Internet:
  Artificial online Life
http://alife.santafe.edu/
 

| ABSTRACT | LIFE | PROGRAMM | REGISTER |