Zu den Vorträgen
"Artificial Life" und
The Visible Human ProjectTM
von Claudia Reiche

Claudia Reiche
'Lebende Bilder' aus dem Computer
Konstruktionen ihrer Mediengeschichte

 

Schriftbild
    Das lebende Bild
    Abb. 1:  Kino-Theater 1903, "Neueste Filme. Beste Apparate"

     

Karl Knübbels "KinoTheater" hatte "wöchentlich zweimal neues Programm", was auf der alten Photographie noch zu entziffern ist. (Abb. 1) "Das lebende Bild", das müssen wechselnde Bilder in mehrfacher Hinsicht gewesen sein und nicht ein einzelnes – wie eine Photographie [1]. Dennoch ist als Firmenname und als Bezeichnung der neuen Medientechnik, um die es in diesem Berliner Etablissement am Anfang des Jahrhunderts gegangen ist, der Terminus "Das lebende Bild" gewählt. Als ein einzelnes Bild, das wie durch ein Wunder mit 'Leben' begabt sei, erscheint hier die Filmtechnik in der Sprache. In diesem Fall, in der Vergrößerung als Ladenschild, zeigt sich der Name seitlich flankiert, typographisch getragen von den großen Anführungszeichen. Das fällt auf.
Noch ein Blick auf die photographierte Schrift:
"Das lebende Bild". –
Was kann das sein?

Tableau vivant
    Die Anführungszeichen markieren diesen Terminus als Zitat. Historisch taucht das Genre der 'lebenden Bilder', französisch tableaux vivants, zunächst als Mode gebildeter Stände vermehrt um 1800 auf – als "Darstellungen von Werken der Malerei und Plastik durch lebende Personen" [2]. Daß bei einer nachträglichen Darstellung bekannter Kompositionen Beachtung vor allem dem zeitlichen Moment zukam, belegen technische Hinweise zum Verhältnis von Bewegung und Stillstand. Der Lexikoneintrag aus Meyers Konversationslexikon von 1890 zum Stichwort 'lebendes Bild' läßt seine ausführliche historische Beschreibung in praktische Anweisungen münden: "Während der Dauer der Schaustellung eines Bildes ist die richtige unbewegliche Beleuchtung des Hauptpunktes genau zu beachten." [3] Es werden technische Anforderungen genannt, die in einer leichten Verschiebung auch für eine Portrait oder Gruppenaufnahme in einem Photoatelier geltend gemacht werden konnten. Denn die Ähnlichkeit der Szenen – das unbewegliche Posieren im Licht, bis die Belichtungszeit der photographischen Platte erreicht war oder die Zeit der Betrachtung für das Publikum abgelaufen war – tritt im historischen Vergleich vor Augen. Als ginge es bereits um die Erfordernisse der erst zu erfindenden Medientechnik Photographie präsentierten sich die Darstellenden eines 'lebenden Bildes' wie in einem Photoatelier, posierten unbeweglich und theatralisch beleuchtet für die jeweilige "Dauer der Schaustellung". Der zunächst unscheinbaren Zeitstelle, dem Moment, an dem das 'Bild' beendet wird, soll hier die Aufmerksamkeit gelten, als Markierung einer bestimmten Operation in der Zeit, die erst unter den neuen Voraussetzungen der Medientechnik Photographie mit ihren ganzen Möglichkeiten hervortreten wird.

 

Photographie

    Das medientechnisch induzierte Ende einer Pose im Photoatelier zeigt sich durch das Geräusch des photographischen Blendenverschlusses an. Dieser mechanisierte Moment des Schließens kann nachträglich Aufschluß geben auch über die Zeitlichkeit des 'lebenden Bildes'. Wenn sich das 'lebende Bild' in der Betrachtung erzeugt, als Kunst eines angehaltenen und gedehnten Augenblicks, dann entsteht das spezifische 'Leben' einer gelungenen Komposition erst im Moment des Abschieds von dem Erblickten, die bei günstig terminierten Endpunkt – bereits auf der Schwelle zur Erinnerung – sich vervollkommnen kann. Gegenüber einem effektvollen BildEntzug, zielt die photographische Aufzeichnung mit anderen Mitteln auf eine Unterbrechung der Zeit. Herausgeschnitten aus dem Fluß der Zeit, festgehalten und sichtbar verewigt werden soll ein Augenblick im vielfachen Abzug. Im photographischen Dokument manifestiert sich ein Eingriff, den Walter Benjamin als "posthumen Chock" formulierte:
    Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das 'Knipsen' des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. [4]
    Mit Sigmund Freud, insbesondere dessen Aufsatz "Jenseits des Lustprinzips", entwirft Benjamin diesen Chock als starke Reizwirkung auf Bereiche des Nervensystems, die im Moment des auslösenden Ereignisses schutzlos gewesen sind. Wenn nun der Chock als "Hinterlassung einer Gedächtnisspur" in einem kurzfristig ungeschützten, sensiblen System funktioniert, so fällt als ein allgemeiner Topos der Vergleich mit dem Vorgang der photographischen Belichtung ein, dem kurzen Auslösen des schützenden Blendenverschlusses, in dem das photosensible Material dem Licht ausgesetzt wird. Benjamin wählt eine Formulierung aus Freuds "Jenseits des Lustprinzips", die diesen Vergleich tatsächlich nahelegt. Freud stellt die Rindenschicht des Gehirns, in dem er die Funktion des Bewußtseins lokalisiert, als eine "Rinde" dar, "die ... durch die Reizwirkung so durchgeannt ist, daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt." [5]

    "Durchbrennen" können elektrische Leitungen bei einem Kurzschluß unter Entwicklung von Wärme und Lichtfunken. Die Logik des technischen Vergleichs legt nahe, daß im Moment eines Chocks die elektrischen Potentiale der Nervenreize das reizaufnehmende, schützende Bewußtsein selbst durchdringen, um ihre Spuren in das Gedächtnis wie in eine photographische Platte einzuschreiben. Denn:

    Die Grundformel dieser Hypothese ist, 'daß Bewußtwerden und die Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind'. Erinnerungsreste sind vielmehr 'oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist'. [6]

    Benjamins "posthumer Chock", den der Photoapparat "dem Augenblick" erteilte, stellt zudem eine Vergleichbarkeit in Hinblick auf die zeitliche Struktur von Chock und photographischer Momentaufnahme her. Als beiden gemeinsam erweist sich eine spezifische Form von Nachträglichkeit. Es sind in beiden Fällen wiederholte, langfristige Effekte einer kurzen, prägenden Einwirkung, die selbst nicht unmittelbar zugänglich ist.

    Die wiederkehrenden, traumatischen Folgen eines Chocks können mit den vervielfältigten, wiederholten Abzügen eines photographischen Negativs verglichen werden. Und das hieße, daß entgegen geläufiger Überzeugung die Erinnerung an einen bestimmten Moment, die von einem Photo erwartet wird, ebenso unmöglich ist wie die Erinnerung an das, was eine Gedächtnisspur hinterließ.

    Denn das, was zum Bewußtsein kommt, ist etwas anderes, mögliches Zeichen für eine NichtÜbereinstimmung von Gedächtnisspur und bewußter Erinnerung. Das abseitige Genre der Geisterphotographie ist unter diesem Blickwinkel als Reflex des skizzierten Verhältnisses zwischen psychischem und photographischem Apparat anzusehen, als Inszenierung und Bebilderung einer unmöglichen Präsenz in phototechnischer und organischer Gedächtnisfunktion. Stellvertretend und auf photographischem Wege aus der Zeit herausgelöst wurden künstliche, gestellte 'Präsenzen': all jene Wiedergänger, Phantome, Geister und Gespenster, die sich "posthum" und medientechnisch neu beheimatet fanden in den Zwischenräumen von Vergangenheit und Zukunft, zwischen Einmaligkeit und Vervielfältigung, zwischen Leben und Tod. [7]

    Wenn die 'lebenden Bilder' nun in ihren bewegungslosen, stumm dargebotenen Posen eine Ähnlichkeit zur Photographie aufweisen, so betrifft der Vergleich gerade diese Zwischenräume. Angehalten wird für die Dauer einer Pose, eines 'Bildes', in einer suspendierten Zeit die Bewegung; sichtbar verborgen und auf diese Weise inszeniert ist so das sichtbarste Kennzeichen für 'Leben', bis im verdichteten Moment des Wechsels das 'Leben' des 'lebenden Bildes' sich zwischen Stillstand und Bewegung entfaltet.

    Die menschliche Seele
    Abb. 2:  "Die menschliche Seele, ihre Bewegungen, ihre Lichter und die Ikonographie des unsichtbaren Fluidums."
Ein photographisches Dokument einer Aufführung 'lebender Bilder' könnte nun gerade nicht ihr besonderes, wesentlich unsichtbares 'Leben' zeigen, sondern allenfalls den Versuch von dessen medientechnisch fortgeschrittener Aufzeichnung und zeitlicher Fixierung. Als eine mögliche Übersetzung sei an dieser Stelle darum ein Photo eingesetzt, das keine Aufführung eines 'lebenden Bildes' festzuhalten versucht, sondern auf seine Weise einen "zeitlosen", gespenstischen Ort selbst abzubilden beansprucht: als unmögliche Momentaufnahme der "Seele" selbst. Es ist ein Beispiel der photographischen Forschungsarbeit des Psychiaters Hippolyte Baraduc, das seinen Erläuterungen zufolge als unmittelbare Aufzeichnung der menschlichen Seele auf der photographischen Platte gilt – in diesem Fall "ohne Apparat" und im Dunklen ausgeführt. Die photographische Platte wurde in einer Langzeitbelichtung vor die Stirn der Versuchsperson geacht und anschließend entwickelt. Die Aufzeichnung des unsichtbaren Seelenlebens stellt in diesem Beispiel den Zustand des Besessenseins, "la hantise" dar. (Abb. 2) Sie stammt aus der Buchpublikation von 1896 mit dem Titel L'Ame humaine, ses mouvements, ses lumières et l'Iconographie de l'invisible fluidique.

Kinematograph
    In ganz neuem Licht wiederholte sich die Rede vom 'Leben' der Bilder am Ende des 19. Jahrhunderts, nämlich an der Herausforderung, die die neue Medientechnik Film dem Denken stellte. Als 'lebendes Bild' wurden in der Frühzeit des Kinos die technischen Einrichtungen zum Vorführen von Filmstreifen bezeichnet, deren sensationeller Effekt die Wiedergabe photographischer Aufnahmen in Bewegung war. 1913 wurde die Frage, was Kinematographie sei, exemplarisch so beantwortet:

    An sich nichts weiter als eine planmäßige, durch einen wunderbaren Mechanismus ermöglichte Vorführung tausender von Augenblicksaufnahmen nacheinander, ahmte doch diese Photographie nicht nur Licht und Schatten eines toten Bildes nach, sondern selbst Plastik und Bewegung lebendiger Wirklichkeit. [8]

    Die Kinematographie wird mit dem vorausgegangenen technischen Medium, der Photographie, verglichen, indem sie selbst als eine Art der Photographie bezeichnet wird und als 'ein' Bild gedacht wird. Wurde der Filmstreifen mit den vielen Phasenbildern in der Projektion erlebt, so schien der "wunderbare Mechanismus" 'ein' Bild zu bewegen und so lebendig werden zu lassen, bis gar dessen vermeintliche Tiefe und Fülle als "Plastik" greifbar zu werden schienen. Der Anschein "lebendiger Wirklichkeit" und die Bezeichnung des Films als 'lebendes Bild' mag insofern gerade dann auftauchen, wenn die sensationelle neue Bildlichkeit des Films wie ein photographisches Bild, und das heißt im Paradigma der älteren Medientechnik und der Bildkunst gedacht wird. Diese Sichtweise unterstützte eine frühe Aufführungspraxis der Filmstreifen, wie sie sowohl mit Edison's Kinetoscope als auch dem Lumièreschen Projektor durchgeführt wurde. Gezeigt wurde dem Publikum zunächst ein stehendes Bild, das danach durch Betätigung des Transportmechanismus 'lebendig' zu werden schien. [9]

    Anders erscheint die Neuheit des Films, wenn die zeitgenössische Einteilung der Künste – Literatur und bildende Kunst – selbst in Frage gestellt wird. So gesehen kombinierte die Filmkamera Elemente zweier Darstellungsmodalitäten, die als visuelle oder sprachliche getrennt bestanden und verwandelte mit ihren neuen medienspezifischen Grenzen auch das Verhältnis dieser Künste. Indem zeitliche Abläufe im physikalischen Sinne speicherbar und als sichtbare Bewegung wiederholbar wurden, ergab sich den Künsten hinsichtlich der Zeitdarstellung eine neue technische Konkurrenz. Was bisher wesentlich den sprachlich basierten Künsten vorbehalten war, als Darstellung von 'Handlung' oder eines zeitlichen Ablaufs, wurde durch den Film visuell darstellbar und so umformuliert. Nicht beschrieben, sondern wissenschaftlich exakt aufgezeichnet werden konnten jetzt – um ein Beispiel zu nennen – der Gang, die Blicke, die ganze Haltung einer Dame auf der Straße als zeitlich analysierbare Bilderfolge. Bildlich aufgezeichnet und als Bewegung wiederholbar gemacht wurde durch den Uhrenmechanismus des Filmtransports [10] erstmals die Zeit.

    Wie eine Verwandlung 'toter' Buchstaben in den Ablauf "lebendiger Wirklichkeit" oder einer stillen 'toten' Photographie in ein bewegtes 'lebendes Bild' konnte die neue Bildlichkeit des Films wirken, wenn sie als eine neuartige Photographie oder neuartige Literatur begriffen wurde, die abbildrealistisch eine Verschmelzung von Darstellung und Dargestelltem, Abbild und Abgebildetem zu erreichen schien, die bisher so nicht möglich war. Als 'Verwirklichung' literarischer Darstellung, als 'Leben' des Bildes auf der Leinwand erschien der Film, ausgehend vom Erlebnis im Kinosaal.

    Aber solche 'Belebung' des filmischen Bildes, wie sie unter Absehung der materiellen Grundlagen einer Medientechnik entsteht und darum Metaphysik hervoringt, kann sich nochmals verwandeln, wenn demgegenüber die Medientechnik selbst zum Ausgangspunkt neuer wahrnehmungstheoretischer Formulierung wird. Denn die Bilder, die um 1900 die Bezeichnung "lebend" erhielten, ahmten zwar technisch die Bewegung mit dem Anschein "lebendiger Wirklichkeit" nach, konnten jedoch zugleich diese Wahrnehmung selbst als Täuschung erweisen. Denn von einer 'lebendigen Bewegung' konnte auf einem Filmstreifen allein – etwa zwischen den einzelnen Phasenbildern – nichts beobachtet werden. Die Illusionswirkung einer Bewegung entstand durch die feinmechanische Technik der kinematographischen Aufnahme und Projektionsapparate, durch die sekündlich 16fache Weiterbewegung der einzelnen Filmbilder vor das Objektiv – in einem Wechsel von Stillstand und Bewegung, langer Hell und kurzer Dunkelphase – in einer nicht mehr wahrnehmbaren Geschwindigkeit. Diese Steigerung über das Maß der physiologischen Leistungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung hinaus ist es, die derjenigen ästhetischen Betrachtung einen "Chock" versetzte, die fasziniert ein 'lebendes Bild' zu erblicken glaubte. Auch hier kann gelten: Je weniger dieser "Chock" in die Reflexion eingehen konnte, desto stärker wirkte er; desto gründlicher wurde das Wunderbare des 'lebenden Bildes' gegen die neue technische Abbildung des menschlichen Geistes durch Zahnräder ins Feld geführt. Solcher Betrachtung gerät der perforierte Bildstreifen nicht in den Blick, dessen gestanzte Löcher bereits sichtbares Zeugnis der Zahnräder geben, dessen einzelne Bilder einen Transportmechanismus ablesen lassen, kurz: der die Uhr im Zentrum der filmischen Illusion zu sehen geben kann.

    Die frühe Filmtechnik mußte selbst ihre eigene Medientheorie verkörpern, wie sie heute noch durch den Blick auf die Teile der kinematographischen Apparate entzifferbar ist. In diesem Sinne wäre das Kino tatsächlich "die letzte Maschine" [11], als mechanische Zerlegung und Synthetisierung des Blicks und sinnlich nachvollziehbare Neuinszenierung der Grenze von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Funktionsabläufe im Inneren von Videorecordern oder Computern verweigern sich längst derartigen Betrachtungsversuchen und sind aus anschaulichen Gesetzen der Mechanik und Optik heraus nicht mehr zu verstehen.

    Verglichen mit den theatralischen Listen der einstigen 'lebenden Bilder', der tableaux vivants waren die Vorzeichen der kinematographischen Bilder derart vertauscht, daß die feierliche Langsamkeit dieser Darbietung durch die nicht mehr wahrnehmbare Geschwindigkeit der Filmtechnik ersetzt war, die "lebenden Personen" durch "tausende von Augenblicksaufnahmen" und das 'Lebende ' nicht mehr im ruhigen Anblick, sondern im flackernden Kinoerlebnis erschien. Die tableaux vivants überlebten diese neue Sensation nicht. Vom Film überholt, avancierten sie stattdessen zum Inbegriff des ästhetisch Veralteten: "Wenn aber der Film zu einer Reihe von 'lebenden Bildern' wird, dann verlieren seine Bilder das Lebendige." [12] Insofern es nun die geschwinde Mechanik einer Maschine geworden war, die das 'Leben' neu produzierte, stellten sich neue Forderungen an Wahrnehmungs und Darstellungsweisen, die selbst Bewegung und Geschwindigkeit, Schnitt und Montage zu bearbeiten hatten.

    Beim Übergang von Literatur zum Film, wie ihn Béla Balázs 1924 in Der sichtbare Mensch beschreibt, bliebe von einer verfilmten Literatur nachträglich nicht viel mehr übrig wie von einer sezierten Leiche, die allenfalls ein gespenstisches Leben führte, wenn sie nicht mit neuer Kunstfertigkeit wieder zu Natur und Leben zusammengesetzt würde.

    Vor dem Kinoapparat werden literarische Werke durchsichtig wie vor den Röntgenstrahlen. Das Knochengerüst der Fabel bleibt, das schöne Fleisch der Gedankentiefe, die zarte Haut des lyrischen Tönens verschwindet auf der Leinwand. Von den duftigsten Schönheiten bleibt nur ein nacktes, rohes Skelett üig, das keine Literatur mehr und noch kein Film ist. [...] So ein Skelett müßte ein neues und ganz anderes Fleisch, eine andere Epidermis bekommen, um eine im Film sichtbare lebendige Gestalt zu erhalten. [13]

    Den neuen "sichtbaren Menschen" als "lebendige Gestalt" erzeugt der Film als Illusion. Unsichtbar soll für Balázs das technisches Skelett der filmischen Wahrnehmungstäuschung bleiben, die Dunkelphase zwischen den einzelnen Bildern. Trotz der neuentdeckten mechanischen Täuschbarkeit der visuellen Wahrnehmung und ihrer weiterreichenden Illusionswirkungen hieß es mit der souveränen Doppeldeutigkeit von Schlagworten: "Kino ist und bleibt – 'lebendiges Bild'!" [14]

     

Psychischer Apparat
 
    Totentanz Totentanz

    Abb. 3:  Totentanz

    Diese Einzelbilder aus einem Filmstreifen, von ca. 1 Minute Spieldauer [15] (Abb. 3) zeigen ein geläufiges Motiv der frühen "lebenden Bilder": das tanzende Skelett. Zu sehen ist hier auf diesen Buchseiten allerdings nicht der Tanz. Keine schlenkernden, frei hüpfenden und ausreißenden Knochen, kein geworfener und herumspringender Schädel kann in Momentaufnahmen anschaulich werden. Das Verblüffende dieses frühen Streifens bleibt Beschreibung, sind es doch frei schwebende, springende und bewegliche Teile, die sich in ihrer ungewissen Verbindung seltsam zu 'menschlichen' Gesten fügen. Die durch eine speziell konstruierte Marionette und durch Stoptrick erzeugten Bewegungsabläufe dieses filmischen Gespenstes bleiben unsichtbar wie seine geisterhafte, minutenlange Erscheinung mit allen Zeichen "lebendiger Wirklichkeit" und dokumentarischer Echtheit.

    Von heute aus betrachtet stellt sich die Frage, ob die Narration dieses kurzen Filmstreifens, die vorführt, wie totes Material zum Tanzen und so zu künstlichem 'Leben' geacht wird, das sonderbare 'Leben' der filmischen Bilder selbst inszenieren wollte. Die Marionette in Gestalt eines Skeletts wurde sowohl als zusammenhängendes Ganzes als auch in Form unabhängiger, abgelöster Teilstücke geführt. Die Dekomposition einer menschenähnlichen Gestalt und ihre folgende Wiederherstellung zeigt Unterbrechungen einer vermeintlichen Ganzheit, die trotz einer derartig entdeckten Täuschung bereitwillig wieder gesehen wird, sobald die verstreuten Glieder der Puppe sich einander wieder annähern. Spekuliert werden kann, daß das alte Puppenspiel als Kunst der Aufgliederung und Synthese von Bewegungsabläufen hier der Vorstellung einer neuartigen, fremden Attraktion dient. Inszeniert würde so durch die Manipulation der Fäden und Puppenglieder die neue medientechnische Täuschung, die die tatsächliche Diskontinuität der einzelnen Filmbilder zu einer fließenden Bewegung verschmelzen läßt.

    Aber auch direkt, auf genuin filmische Weise wurde diese Täuschung zur Steigerung der geisterhaften Wirkung eingesetzt, mittels Stoptrick. Denn zusätzlich wurde die Kamera bei der Aufnahme angehalten, die Marionette entfernt, dann die Aufnahme bei unveränderter Kameraposition fortgesetzt, so daß der Effekt entsteht, als ob das tanzende Skelett plötzlich verschwunden sei und dem suchenden Blick sich die leere Szene präsentiert. Aber auf die gleiche Weise kann es an anderer Stelle plötzlich wiedererscheinen und den Betrachtenden nochmals zum Narren halten. So werden in diesem Filmstreifen Zeit und Raum der filmischen Illusion auf zwei Weisen gezeigt – zwischen den Gliedern der Skelettpuppe wie zwischen den einzelnen, zeitversetzten Bildern. Und diese kleine, alte Filmerzählung kann helfen, die Differenz zu denken, die die Filmwahrnehmung überhaupt ermöglicht – zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein. Da, wo nichts zu sehen ist, erzeugt sich die Erscheinung des bewegten 'Lebens' – in der verkehrten Gestalt eines sichtbar Toten, Mechanischen. Oder anders ausgedrückt als "Bewegungswahrnehmung scheinbewegter Lichtmuster". [16]

     

Modellbau
    Die Tricktechnik dieses frühen Streifens inszeniert die Rede vom 'Leben' der Bilder als Komödie, so daß Verblüffung und Lachen die Stelle einer geglaubten Illusion einnehmen können. Dies ist eine Weise medienpraktisch eine neue Theorie der Wahrnehmung zu formulieren. Sigmund Freuds Traumdeutung von 1900 kann in anderer Weise als Beginn einer solchen Medientheorie gelesen werden. Der "psychische Apparat" wird in der Traumdeutung mit Hilfe optischer und mechanischer Vergleiche formuliert, z.B. "... daß wir uns das Instrument, welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl." [17]

    Hier soll der Vergleich auf die Bewegungsillusion, wie sie die filmischen Apparatur erzeugt, ausgeweitet werden. Eine scheinbare Bewegung wird bei der Filmprojektion durch etwas erzielt, was nicht aufgezeichnet wurde, genauer: durch die Unterbrechung der Aufzeichnung mindestens 16 Mal pro Sekunde. Als Differenzen zwischen den einzelnen Bildern bilden sich diese Unterbrechungen auf dem Filmstreifen ab. Nichts mehr als diese Differenzen sind es, die in der Filmwahrnehmung eine halluzinative Ausfüllung erzeugen. Die Filmprojektion verwandelt somit Unterbrechungen der Aufzeichnung vermeintlich in Bewegungsabläufe 'zurück'. Wie schon beim Photoapparat kann zwischen Aufgezeichnetem und Wiedergegebenem jedoch keine Identität angenommen werden. Ein direkter Vergleich mit einer primären bildproduzierenden Aktivität des "psychischen Apparats" kann hier gezogen werden, mit dem Traum. Entsprechend der "halluzinativen Belebung der Wahrnehmungsbilder" [18] , die der Traummechanismus vornimmt, funktioniert die Filmprojektion: wie eine Regression. "Wir heißen Regression, wenn sich im Traum die Vorstellung in das sinnliche Bild zurückverwandelt, aus dem sie irgend einmal hervorgegangen ist." [19] Können nun die hier genannten "Wahrnehmungsbilder" und "Vorstellungen" am Modell des Filmstreifen und entsprechend dem Prinzip einer differentiellen Markierung gedacht werden? Dies entspricht insofern Freuds Konstruktion des Unbewußten, als die Form der Aufzeichnung von "Wahrnehmungsbildern" im Gedächtnis keineswegs selbst als bildlich angenommen wird, sondern als eine sprachliche Struktur, und das heißt als ein System von Differenzen, das Bedeutungen erzeugt. [20]

    Es kann jedoch die bildliche Konkretion des Vergleichs zwischen filmischem und psychischem "Apparat" nicht lange täuschen: Wenn der Film hier als 'Traummaschine' vorgestellt wird und die halluzinative Belebung von Gedächtnisspuren im Traum am Modell der filmischen Bewegungsillusion veranschaulicht wird, dann geht es um die theoretische Konstruktion einer 'Maschine', deren Produktion zugleich diese 'Maschine' selbst ist und deren sonderbare 'Teile' "wie eine Sprache" [21] konstruiert sind.

    Jede andere Analogiebildung zwischen 'Filmischem' und 'Psychischem', die sich zugleich an den bildlichen Effekten filmischer Projektion wie am Bild der filmischen Apparatur selbst orientieren wollte, erwiese sich als irreführend, denn bei einer Vorstellung von Gehirnregionen, z.B. dem visuellen Cortex, wie von einer Kino–Projektion auf die gesamte Großhirnrinde müßte stets ein miniaturisierter Betrachter mitgedacht werden, modelliert nach dem Bild des Ich. Stattdessen kann der hier vorgeschlagene strukturelle Vergleich von Filmtechnik und Psyche das Ich als Kinoeffekt, und das heißt als Täuschung oder auch als tanzendes Gespenst erweisen. Wenn der "psychische Apparat" hier als eine 'Traummaschine' mit Ähnlichkeiten zur filmischen Technik vorgestellt wird, so ist ein Vergleich intendiert, der zwar mit Bildern aber jenseits bildlicher Identitätsstiftung arbeitet.

    Die Teile einer solchen bildproduzierenden 'Traummaschine' griffen als die sprachlichen Operationen von Metonymie und Metapher ineinander, der kontinuierliche Transport einzelner, diskontinuierlicher Bilder in der Filmprojektion könnte Tempo und Rhythmus der strukturellen Analogie hier andeuten. Wäre eigentlich so der "in den analytischen Sitzungen häufige Lapsus" zu erklären, "daß viele Patienten von einem Film sprechen und einen Traum meinen"? [22]

    Hier könnte es zunächst heißen, daß durch die Analyse des wahrgenommenen 'Lebens' auf der Filmleinwand, durch die Erkenntnis einer maschinell überbotenen Geschwindigkeit, einer überlisteten Trägheit des Auges und des Bewußtseins, dem einst gesehenen 'Leben' eine weitere Bedeutung gegeben werden konnte. Die Anführungszeichen des Ladenschilds "Das lebende Bild" konnten dies 'Leben' bereits derart als sprachliches anzeigen. Nun heißt der Film heute nicht mehr "lebend". Aber was heißt das?

 

'Artificial Life'

    Die Geschichte des Zitats "Das lebende Bild" ist noch nicht zu Ende, man könnte sagen, es lebt weiter. Denn aktualiter, ein Jahrhundert nach Erfindung des Films, ist wieder auffallend die Rede von 'lebenden Bildern' – jetzt allerdings "aus dem Computer". [23] Noch einmal verschoben hat sich die Bedeutung des "Lebens", das Bild einer neuen Medientechnik hat sich an die Stelle des alten gesetzt. Wenn allgegenwärtig diese 'lebenden Bilder' in wissenschaftlichen Veröffentlichungen ebenso wie in TV–Sendungen und Magazinen erscheinen, so gelten die Bilder als bloße Visualisierung von Rechenvorgängen, das 'Lebende' als Qualität des jeweiligen Computerprogramms.

    Ein neues interdisziplinäres Forschungsgebiet, ausgespannt zwischen den Bereichen Informatik, Mathematik, Physik und Biologie, wird die aktuelle begriffliche Karriere des Wortes 'Leben' ermöglicht haben, denn solchermaßen von 'lebenden Bildern' wird mit naturwissenschaftlichem Selbstverständnis im Bereich des sogenannten ' Artificial Life', des 'Künstlichen Lebens' gehandelt. In der Veröffentlichung der Ergebnisse der Gründungskonferenz dieser Forschungsrichtung im Jahr 1987 heißt es:

    Innerhalb von fünfzig bis einhundert Jahren wird voraussichtlich eine neue Klasse von Organismen entstehen. Diese Lebewesen werden in dem Sinne künstlich sein, als sie von Menschen gestaltet wurden. Dennoch werden sie sich fortpflanzen und in Formen umwandeln, die anders als ihr Ursprung sind. Sie werden 'leben', in des Wortes eigentlicher Bedeutung. [24]

    Oder auch:

    Leben ist nicht eine Ansammlung von Materie, sondern das, was diese Materie organisiert. Noch unbekannte Regeln der Komplexität leiten Materie zum Leben, und das Resultat zeigt viele verschiedene Gestalten und Verhaltensweisen, die wir alle guten Gewissens als lebendige identifizieren können. Durch die Wiederentdeckung dieser Prinzipien, durch die richtige Anwendung von Mathematik und Informatik, können wir Bilder – und letztendlich Organismen – herstellen, die sich aus eben diesen Prinzipien mit genau der gleichen Sicherheit ableiten lassen. [25]

    Was 'lebt', das ist scheinbar leicht zu bestimmen, folgt man diesen Ausführungen. In einer Analogie werden mehrere Möglichkeiten genannt: 'Lebend' ist eine bestimmte Organisationsform. 'Lebend' wären "verschiedene Gestalten und Verhaltensweisen". 'Lebend' wären "Organismen". Und 'lebend' wären dann auch "Bilder". Die verbindende Voraussetzung, die auch Bildern hier "Leben" zusprechen kann, formuliert sich bündig als dessen mathematische Basis: "Die grundlegende Kategorie des Lebens ist Information." [26]

    Die Trägersubstanz dieses "Lebens", das als Informationsstruktur gekennzeichnet ist, gilt als variabel. Nur so werden die Begriffe "Organismus" und "Bild" auswechselbar, wie es im vorigen Zitat durchgespielt wurde. Nur, was das dann für ein "Bild" ergäbe – ein materieller Träger einer bestimmten Informationsstruktur, dem da "Leben" attestiert wird, das scheint die schwieriger zu behandelnde Frage zu sein. Denn die für das Forschungsgebiet essentielle Voraussetzung einer Austauschbarkeit 'materieller Träger' des "Lebens" verknüpft sich notwendig mit einem Sprachspiel, das eine Austauschbarkeit materieller, jetzt sprachlicher 'Träger' der alles vereinenden Kategorie "Information" produziert. Dargestellt werden soll dieses Sprachspiel hier in Form einer Geschichte, der Geschichte des Wortes "Life" im Namen des Forschungsgebietes "Artificial Life".

    Die gegenwärtigen Forschungen zum 'Artificial Life' gehen auf Ideen des Mathematikers, Computerpioniers und Begründers der mathematischen Spieltheorie John von Neumann zurück. Die Regelsysteme und Computerprogramme, die zunächst "künstliches Leben" zu erzeugen in der Lage sein sollten, basierten auf dem Prinzip "zellulärer Automaten". Die von Neumann begründete "Theorie der Automaten" [27] geht davon aus, daß Computer wie Menschen als zwei verschiedene Klassen von Automaten gedacht werden können, deren Verhalten mathematisch zu bestimmen sei. "So muß ich bitten, diese Übervereinfachung des Systems anzunehmen. [...] Ich betrachte lebende Organismen wie rein digitale Automaten." [28] Auf dieser Grundlage war für einen "zellulären Automaten" ein System von Regeln gefordert, das zur Selbstreproduktion und zur Selbstorganisation ebenso fähig sein sollte, wie ein Lebewesen, ein sogenannter "natürlicher Automat".

    Den zellulären Automaten liegt nun die Vorstellung eines potentiell unendlichen 2dimensionalen Gitters zugrunde, bei dem jedes Gitterfeld als einzelne "Zelle" mit bestimmten Zuständen oder Verhaltensweisen aufgefaßt wird, die gemäß allgemein festgelegten Spielregeln und den Zuständen der umliegenden Zellen ihren Zustand im Takt jedes Spielschritts neu definiert.

 

Game of LIFE

    Ende der 60er Jahre wurde von dem Mathematiker John Conway ein solcher zellulärer Automat: als Spiel mit einfachen Regeln realisiert. Zunächst wurde es mit Spielsteinen auf einem Tisch gespielt, bevor es dann in ein Computerprogramm übertragen wurde. Das legendäre Spiel von Conway mit dem Namen "LIFE" [29] wird als "universelle Maschine" [30] begriffen, die alle beschreibbaren Problemealler Automaten simulieren könne und gilt zudem als "eine große vereinheitlichende Theorie des Universums" [31]. Denn es besteht die These, daß "LIFE" das "Leben" selbst simulieren könne. Eine umfassende Einführung in Regeln und Eigenschaften dieses Spiels, sowie die Geschichte seiner Erforschung sind von John Conway unter dem Titel: "Was heißt 'Leben'?" [32] veröffentlicht. Dieser Aufsatz beginnt damit, die Regeln des Spiels "LIFE" in Form von "ein paar aufklärende(n) Worte(n)" über das "Leben" vorzustellen.

    Diese Regeln geben an, daß die einzelnen "Zellen" des Gitters, das als Spielfeld dient, sich in zwei verschiedenen Zuständen befinden können, die als "lebend" oder "tot" [33] bezeichnet werden. Jede "Zelle" hat acht mögliche Nachbarn und kann nur dann den nächsten Taktzyklus "überleben" [34], wenn zwei oder drei Nachbarn gleichfalls leben. Hat sie mehr lebende Nachbarn, stirbt sie an "Überbevölkerung" [35], und gibt es weniger als zwei lebende Nachbarn, stirbt sie an "Vereinsamung" [36]. Wenn eine Zelle auf diesem Spielfeld abgestorben ist, bleibt sie solange tot, bis sie drei lebendige Nachbarn besitzt und sie wieder "geboren" [37] wird.

    Das Spiel beginnt auf einem möglichst großen Feld durch die Setzung irgendeiner Figur, das heißt durch die willkürliche Bestimmung, welche "Zellen" "leben" und welche "tot" sind. Die folgenden Entwicklungen der "Zellen" ergeben sich dann in strenger Zwangsläufigkeit allein aus den genannten Spielregeln. Nach einigen Taktzyklen bilden sich stabile und periodisch veränderliche Muster heraus. Ein markantes Beispiel eines solchen Musters bildet der sogenannte glider, dessen Gestalt sich innerhalb von vier "Generationen", wie die Taktzyklen auch genannt werden, wiederholt, allerdings verschoben um ein Gitterfeld in diagonaler Richtung. (Abb. 4) [38]

    4 Generationen eines gliders
    Abb. 4:   "LIFE": 4 Generationen eines gliders

    Die Entdeckung einer gleichmäßig sich bewegenden Anordnung war von großer Bedeutung für den Beweis, daß das Spiel "LIFE" jeden anderen Automaten simulieren könnte, gleichgültig ob er elektronischer oder natürlicher Art ist. Wenn "LIFE" als ein Automat mit universeller Rechenfähigkeit arbeiten würde, könnte mithilfe dieses "LIFE"Rechners jeder physikalische Prozeß in Form rechnerischer Abläufe dargestellt werden, und somit auch jedes biologische System. Um den Beweis einer universellen Rechenfähigkeit für "LIFE" anzutreten, wurden verschiedene interagierende periodische Muster benötigt, um auf dem Spielfeld logische Elemente eines Computers wie Schalter, Uhr und Speicher darstellen zu können. Es gelang durch inszenierte Kollisionen von gliders neue glider zu produzieren, die selbst weitere Interaktionen der Konfigurationen erzeugten. Unter Verwendung von regelmäßig periodischen streams of gliders, die als Folge von Bits aufgefaßt wurden, konnten "Und" "Oder" und "NichtSchalter" simuliert werden, sowie auf dem "LIFE" Spielfeld ein Analogon eines Computerspeichers konstruiert werden. Tatsächlich wurde so der Beweis geführt, daß das Spiel "LIFE" eine "universelle Maschine" ist.

    Für die Behauptung "Es gibt 'LIFE'–Konfigurationen, die sich wie selbstreproduzierende Lebewesen verhalten" [39] beansprucht John Conway mehr als eine spielerische Gültigkeit. "LIFE" erhält den Status einer mathematischen Theorie über die Entstehung des Lebens und die Evolution der Arten, die bei einer geglückten Durchführung im Spiel "LIFE" als bewiesen gelten würde. Aber was bedeutete ein solcher Beweis? In John Conways Darstellung nichts weniger als die tatsächliche 'biologische' Entstehung neuen Lebens:

    In einer hinreichend großen zufälligen 'Ursuppe' muß, einfach per Zufall eine selbstreproduzierende Konfiguration herumschwimmen. Ist sie besonders gut angepaßt, so wird sie allmählich ihr Territorium bevölkern. [...] Für diesen Evolutionsprozeß scheint es keine Grenzen zu geben. Hat man einen hinreichend großen Lebensraum in zufälligem Zustande, so werden nach langer Zeit intelligente, selbstreproduzierende Lebewesen entstehen. [40]

    Insofern sollen sich mithilfe von "LIFE" Bildung, Zerfall und Mutationen von Populationen biologischer Organismen als visualisiertes Datenprocessing erforschen lassen. Die Rolle des Zufalls in dieser digitalen "Evolution" bleibt auf die "zufällige", genauer: beliebig gewählte Ausgangssituation des Spiels beschränkt. Der Zufall, wie er sich im tatsächlichen Evolutionsprozeß manifestiert, zum Beispiel allein in spontanen Mutationen des Erbmaterials, kommt im Spiel "Life" nicht vor. Alle Möglichkeiten für "Zufälle" oder "Rechenfehler" im angenommenen Evolutionsprogramm müßten systematisch durch neu begonnene Spielsituationen erfaßt werden. In diesem Sinne wäre die Argumentation John Conways zu überdenken, daß "LIFE" potentiell jedes bekannte Tier hervoringen kann, ebenso wie unendlich viele unbekannte.

    In einem ausreichend großen Maßstab müßte man wirklich lebende Anordnungen erkennen können, lebend in des Wortes eigentlicher Bedeutung, welche Definition man auch verwenden mag. Sie würden sich entwickeln und vermehren, sich um Territorium streiten, immer intelligenter werden und schließlich sogar ihre Doktorarbeit schreiben. [41]

    Conway, der Vater des Spiels, hätte sich dann schon vorab seinen Platz in diesem mythischen Territorium angewiesen: den Platz Gottes. Allerdings fehlt in seinen Voraussagen eines neuentstehenden künstlichen Lebens eine Beziehung zu der grundsätzlichen sprachlichen Spielregel von "LIFE", die ja spielimmanent die Bezeichnungen "lebend" und "tot" für die zwei möglichen Zustände der Zellen forderte. Die Unterscheidung zwischen dem im Spiel so genannten, also fiktiven Zustand "lebend" und den "lebenden Anordnungen in des Wortes eigentlicher Bedeutung" gilt in Conways Argumentation als überwunden, und zwar durch die besonderen mathematischen Eigenschaften des Spiels. Diese Leistung von "LIFE" kann auch so formuliert werden, daß in Conways Aufsatz "LIFE" die Anführungszeichen des von ihm erzeugten "Lebens" überwindet, womit auch die Antwort auf die Titelfrage "Was heißt 'Leben'?" bereits genannt wäre.

    Wie nun ein derartiger Übergang von gesetztem "Leben" zu einer Evolution lebender Organismen in der Darstellung vollzogen wird, verlangt eine genauere Betrachtung, besonders in Hinblick auf die Funktion der Bildlichkeit. Zunächst: Wie paßt zu einem vorausgesagten Leben auf dem "LIFE"Spielfeld die grundlegende Eigenschaft des Spiels, die darin besteht, daß "LIFE ... wirklich unvorhersehbar" [42] ist? Mathematisch nicht vorhersehbar, das heißt, daß nur anhand von durchgeführten Simulationen jeder einzelnen Generation die periodisch wechselnden und stabilen Gestalten berechnet und 'erkannt' werden können. Beobachtet wird am Monitor die komplexe Musterbildung, um neue Konfigurationen im bewegten GesamtMuster der Spielfläche zu sehen und zu benennen, ganz als ginge es darum, eine neue Tierart mit spezifischem Verhalten zu 'entdecken' und ihre Genese und ihr Verhalten zu bestimmen.

    Diese Art der Beobachtung von Rechenprozessen einer Maschine verlangt selbst methodische Aufmerksamkeit. Als eingefügte Anekdoten, als Alltagserzählungen werden die visuellen 'Entdeckungen' neuer Spezies im Spiel "LIFE" in den wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Darstellungen eingefügt. Im Gestus der Beiläufigkeit, wie zur bloßen Veranschaulichung strenger Wissenschaft tauchen diese Erzählungen auf, jedoch regelmäßig und in konzeptionell entscheidender Funktion. Signifikant erscheint hier ein vielfach kolportierter Ausruf, der die Entdeckung des glider anzeigt: "Da schaut mal her, hier ist ein Ding, das läuft!" [43] Weiter heißt es – wie eine Anweisung zum Sehen: "Wenn Sie 'LIFE' in vernünftigem Tempo auf dem Bildschirm eines Computers ablaufen sehen, dann bemerken Sie, daß sich der Gleiter mit ziemlich verführerischem Hüftschwung bewegt." [44]

    Vorstellbar ist der "verführerische Hüftschwung" im Medium des Textes: denn beschrieben wird an den errechneten Mustern ein filmischer Effekt wie bei einem gezeichneten Trickfilm. Das "2dimensionale Gitter" mathematischer Herkunft ist plötzlich zu einem Bild, einer gegenständlichen Abbildung geworden, dessen "lebende" oder "tote" "Zellen" zu Bildpunkten, der Computermonitor zum Fernseher. Eine phantasmatische Belebung des bewegten Musters, ein Wiedererkennen einer menschlichen Gestalt zeigt sich in der Sprache an, das hier gesehene 'Leben' scheint insofern nicht in mathematischer Anschauung gedacht zu werden, sondern filmischen Kriterien zu unterliegen. Das 'Leben' der vom Spiel "LIFE" erzeugten Muster kann so als ein zweifaches und paradoxales bezeichnet werden. Denn das Wiedererkennen anthropomorpher Muster und 'lebendiger' Bewegung steht in keinem reflektierten Verhältnis zu der mathematischen Argumentation, daß das Spiel "LIFE" Leben erzeugen könne. Zu vermuten wäre hier der Beitrag einer filmischen Gestalt und Bewegungstäuschung zu der starken 'Lebens'These Conways, die auch die Formulierungen des 'Artificial Life' bestimmt hat.

    Aber auch jenseits eines Wunsches nach Anschaulichkeit abstrakter Muster gibt es Gründe, ein Faszinosum, das in den sechziger Jahren gerade von diesem Spielausgegangen sein muß, mediengeschichtlich zu kommentieren. [45] Einen wichtigen Faktor bei der Erforschung des Spiels stellt die Zeit dar. Schnellere Rechner können längere Generationsfolgen der "LIFE"Zellen oder auch größere Spielfelder zur Beobachtung bereitstellen. Mit der Entwicklung eines kleinen, speziell für das Spiel "LIFE" konstruierten Rechners durch Tomasso Toffoli und Norman Margolus [46] wurde eine tausendfach erhöhte Spielgeschwindigkeit erzielt. Dieser Fortschritt bildet sich in den begeisterten Darstellungen nun in Gestalt eines historischen Vergleichs ab: "Es war wie der Unterschied einer Serie von Einzelphotos und einem Film." [47]

    Schlußfolgerungen aus dieser Wahrnehmung zieht folgende Darstellung:

    Ein System sich derart schnell entwickeln zu sehen, erzeugt natürlich einen ganz anderen Eindruck als die Bildfolge auf einem langsameren Gerät. Statt einer Folge von Standbildern erlebt man einen Film. [...] So erscheint das Spiel des Lebens nicht mehr als statische Progression abstrakter Muster. Weit eher gleicht es einem Blick durchs Mikroskop auf Bakterien und Urtierchen, die hektisch durcheinanderwimmeln, sich teilen, fressen und gefressen werden. [48]

    Daß eine Vielzahl von späteren Programmen des ' Artificial Life' nun weiterhin sogenannte "biomorphe" Formen, also abbildlich ähnliche Formen, Bewegungsabläufe von Lebewesen entstehen lassen wie bei einer filmischen Aufzeichnung ist im Zusammenhang mit der umfassenden Geltungsbehauptung dieser Programme, dem zugeschriebenen "Leben", von größter Bedeutung. Durch die graphische Erzeugung z.B. einer wachsenden Pflanze, eines Insekts oder eines schwirrenden Vogelschwarms in den 'Artificial Life'-Visualisierungen, die an den abbildlichen Realismus insbesondere der Bewegungswiedergabe eines Films erinnert, ist eine neue Funktion des 'Bildes' entworfen.

    Der wissenschaftliche Anspruch der Bildlichkeit des ' Artificial Life' besteht darin, abbildlich ähnliche Formen lebender Organismen im Rechner zu generieren, und zwar durch die algorithmische Übersetzung und Visualisierung bestimmter 'innerer', struktureller Eigenschaften. Theoretisch werden so alle bisherigen Leseweisen des Bildes außer Kraft gesetzt, indem diese neue Abbildlichkeit nicht mehr allein in einer sichtbaren, sondern ebenfalls in einer 'inneren', unsichtbaren Ähnlichkeit gründet, die jedoch selbst visuell überprüft wird. Als ein Skandalon wirkt diese neuartige, doppelte und widersprüchliche Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Abgebildetem und Abbildung, da sie die Frage nach dem Ursprung verwirrt, – eine Ungewißheit, die mit der skandalösen Behauptung gelöst werden soll, daß bestimmte Programmabläufe selbst zu "Lebewesen" erklärt werden. Diese Identifizierung zwischen Abbildung und Abgebildetem im Bereich 'Artificial Life' motivierte jedoch bereits die längst vergangene Rede vom 'lebenden Bild' des Films.

 

Genetik des Bildes

    Zugespitzt manifestiert sich diese Wiederholung einer medientheoretischen Verkennung zugunsten naturalisierender Bildeffekte, wenn eine Identifizierung von "genetischem Code" eines Lebewesens und einer spezifischen Datenstruktur in einem Simulationsprogramm vorgenommen wird, das dann die Gestaltentwicklung dieses Lebewesens bildlich reproduzieren soll. So vertritt zum Beispiel der Physiker und 'Artificial Life' Forscher Stephen Wolfram die These "daß man die Entwicklung eines biologischen Organismus aus seinem genetischen Code durch die Verfolgung jedes einzelnen Entwicklungsschritts [ausgehend vom Startpunkt eines Simulationsprogramms] bestimmen" könne. [49]

    Als "neue Denkweise in den Naturwissenschaften" stellt Wolfram dar: "Wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten interpretiert man heute algorithmisch; man untersucht viele naturwissenschaftliche Zusammenhänge mit Hilfe von Computerexperimenten." [50]. Solche naturwissenschaftliche Forschung könnte in der Tat als Novum gelten, denn sie erforscht die neuartige errechnete Bildlichkeit wie Natur. Die Bildlichkeit insbesondere biomorpher Formen aus einem Programm des 'Artificial Life' bewegt sich in einem neuen Definitionsraum: sie gilt zugleich als Rechnung und Bild, abstraktes Muster und konkretes Abbild, Dokument eines Rechenprozesses und filmische Abbildung eines Lebewesens. Sie beansprucht zugleich "genetischer Code" und dessen prozeßhafte Realisierung als graphische Computeranimation zu sein – das 'Leben' selbst.

    Unsichtbares und Sichtbares müssen in solcher Form des 'Artificial Life' als ein direktes und bestimmbares Übersetzungsverhältnis gedacht sein, von Programmund Visualisierung, von Code und sichtbarer Realisierung dieses Codes. Die Bildfunktion der 'Artificial Life'Forschung bestimmt nicht nur biologische Forschung neu, sondern ebenso die erforschte 'Natur' und wieder einmal das 'Leben' – nach dem Bild der neuesten bilderzeugenden Medientechnik. Dies aktuelle "Leben", innerhalb wie außerhalb der Rechner, wird gedacht als 'Programmablauf ' und dessen sichtbare Erscheinung identifiziert mit den Prozessen des zugrundeliegenden Programms. Jeder biologische Organismus ist unter der Maßgabe dieses neuen Bildbegriffs als Realisierung seiner Informationsstruktur zu denken.

    Die medientechnische Wahrnehmungstäuschung, die um die Jahrhundertwende dazu verleitete, sichtbare Bewegung in einem Bild als 'Leben' anzusehen, findet in dieser Denkweise keine theoretische Berücksichtigung. Wie an den einzelnen Beispielen gezeigt, ist es wieder die alte Wirklichkeitsillusion der filmischen Bewegungshalluzination, die zum neuen 'Leben' der Computersimulationen des 'Artificial Life' beiträgt. Daraus folgt, daß diese computerbasierte Naturwissenschaft in umfassender Weise mit dem übersehenen Bereich der Medientheorie zu konfrontieren sein wird.

    Unter diesem Gesichtspunkt kann die 'Artificial Life'These einer Identität von Informationsstruktur und 'Leben' gerade in ihren bildlichen Belegen als Trickfilm und in diesem Sinn als Fälschung wirken. Die vielfältigen Musterbildungen des Spiels LIFE könnten wie visuell interessante Animationssequenzen gesehen werden, die "Hüftschwünge" der glider wie ein vervielfältigter Totentanz der Bilder. War es doch gerade der Film, der die Differenz und nicht die Identität zwischen wahrgenommenem Bild und medientechnischer Struktur lehrte.

    Infragegestellt würde so die Identifikation von Information und Sichtbarkeit, wie sie die 'Artificial Life'Forschung vornimmt, denn indem die Bildlichkeit selbst übersehen wird, erscheint stattdessen "Leben". Eine Erscheinung mit Rückwirkungen, denn die neue naturwissenschaftliche Denkweise, die die 'Artificial Life'Forschung entwirft, sieht auch einen lebenden Organismus als 'lebendes Bild' an, z.B. als virtuelle, 3dimensionale Visualisierung seiner Daten.

 

The Visible Human Project

    Dies gilt gegenwärtig auch für 'Menschen'. In der Medizin wird die Frage nach dem Übergang eines lebendem Organismus in ein 'lebendes Bild' auf andere Weise erforscht. Ein prominentes Beispiel bietet zur Zeit das "Visible Human Project", das in den Medien – in Zeitungsartikeln, Fernsehberichten und online auf World Wide WebPages – als avanciertestes Projekt medizinischer Datenvisualisierung dargestellt wird. In Auftrag gegeben wurde der "Visible Human" von der US–amerikanischen National Library of Medicine. Medizinische Bild–Datenbanken, die in Hochleistungs– Computer–Netzwerken zugänglich werden sollen, stellen ein grundlegendes Ziel dieser Organisation dar. Langfristig soll eine umfassende "Digital Library" realisiert werden, in der medizinische Bild und Textinformationen, als Wissensbasis aufgearbeitet und zur HypermediaStruktur verknüpft, aufbar sind. Dazu gehören zum wesentlichen Teil Auswertungen visueller Informationsträger, die von Experten segmentiert werden. Das heißt, daß z.B. bei einer Computertomographie die Konturen von Knochen, Muskeln und Weichteilen im Bild erkannt und markiert werden müssen, damit das Bild durch TextMarkierungen, hier die anatomischen Bezeichnungen jedes identifizierten Bildteils, überhaupt zu einem "visuellen Wissen" organisiert werden kann. Als erstes Projekt auf dem Weg zu einer "Digital Image Library" wurde das Projekt "Visible Human" entworfen und in Auftrag gegeben. Für diese digitale Bibliothek des "sichtbaren Menschen" sollten zunächst Volumendaten eines "complete, normal adult male and female" [51]. erfaßt werden, und zwar durch digitalisierte photographische Querschnittsbilder menschlicher Leichen, ergänzt durch computertomographische, und MagnetResonanzBilder. Dies geschah in den letzten zwei Jahren an der Universität Colorado, Health Sciences Center unter der Leitung von Victor Spitzer, Informatiker und David Whitlock, Anatom. Das Datenset der zuerst bearbeiteten männlichen Leiche, erhielt den Namen "Adam". [52]. Als "first digital description of an entire human being" [53]. gerühmt, beschreibt der "Visible Human, male" nicht nur die eine spezifische Gestalt der männlichen Leiche, sondern nebenbei den ganzen Menschen, das "entire human being" neu. Durch die Forderung einer Erfassung eines ganzen "Menschen" in der Bilddatenbank wird eine Vollständigkeit der Aufzeichnung gefordert, die theoretisch unmöglich ist, da sie gegen unendlich strebt. Praktisch stellt sich die Forderung nach der technisch größtmöglichen Genauigkeit und Lückenlosigkeit der Bildaufzeichnung, gedacht als größtmögliche Datenmenge für eine hohe optische Bildauflösung. Das Projekt selbst revidierte allerdings die Auffassung darüber, welche Datenmenge "einem ganzen Menschen" entspräche, indem der "Visible Human, female", unter dem Namen "Eva", gegenwärtig noch 'vollständiger' als ca. dreifache Datenmenge erfaßt wird. Dieser abbildliche 'Realismus' wird insofern proportional zur Größe der erzeugten Datenmenge definiert und wäre so direkt an folgenden immer wiederholten Zahlenangaben abzulesen: Das gesamte Datenset "Adams" benötigt 15 Gigabyte Speicherkapazität, "etwa soviel wie dreißig PCs zu bieten haben." [54] , das Datenset "Evas" entsprechend mehr, gerechnet wird mit bis zu 42 Gigabyte. [55].

    Doch bekannt gemacht wurde das Projekt "Visible Human" nicht als Datenmenge, auch nicht als Serie hochauflösender, digitalisierter Photographien, sondern die Bilder der Leichen tauchten in Print und TV–Veröffentlichungen als etwas ganz anderes auf, nämlich als "phantastische Schöpfung des ersten (echten) digitalen Menschen" [56]. Das angebliche 'Leben' dieser Daten lieferte die Schlagzeilen und das heißt, das Datenset "Adam" wird im biblischen Wortsinn geradezu als Wiederholung der Schöpfung beschrieben, als Belebung toter Materie. Auch als Wiederbelebung, nämlich als "Wiederauferstehung" [57] eines Toten in elektronischer Form taucht "Adam" in der Presse und im Fernsehen auf. Suggeriert wird so ein mögliches "Weiterleben" eines Menschen in Form einer lückenlosen, vollständigen, identischen Aufzeichnung im Computer.

    "Adam" existiert, wenn er existiert, ebenso als Datenmasse auf elektronischen Speichern wie als multimedial inszenierte Erzählung einer technologischen Überwindung der Grenze zwischen Leben und Tod. Wenn ein solcher "Adam" als erstes Buch einer Digital Library erschiene, dann erzählte "Adam" sein eigenes Ende, so wie es prophetische Bücher immer taten: als eine Geschichte vom Ende der Bücher, der Texte und Bilder, die aufhörten zu existieren, wenn sie tatsächlich 'lebten', ebenso wie als Geschichte vom Ende des 'Lebens' durch das "ewige Leben", durch die Tötung des Todes. Die beanspruchte Lückenlosigkeit der bildlichen Aufzeichnung schlägt hier um in die Vorstellung einer Lückenlosigkeit zwischen Bildlichkeit und Abgebildetem, die nicht unterschieden von einer identischen Verdoppelung wäre: ein Bild ist hier wie ein Klon gedacht.

 

Das Buch des Lebens

    Aus Texten, die ein derartiges paradoxales "Leben" verkünden, aus Legenden zu den neuen Bildlichkeiten, setzt sich "der digitale Adam" wesentlich zusammen. Als notwendige Bestandteile seines "Lebens" sind also folgende exemplarische Passagen aus der BILD–Zeitung und aus der Frankfurter Rundschau zu lesen:

    Ein Mörder wird für den Computer zerlegt. Erst hingerichtet, tiefgefroren, dann in 1870 Teile geschnitten. Er nickte noch einmal kurz seinem uder zu. Dann faltete er seine Hände auf der ust und starrte an die Decke – bis er nichts mehr sah. Der Mörder Joseph Paul Jernigan wurde [...] mit der Giftspritze hingerichtet. Sein Körper aber lebt weiter – auf Computerbildschirmen auf der ganzen Welt. [58]

    Joseph Paul Jernigan wurde vor rund zwei Jahren in einer Todeszelle in Texas hingerichtet. Seine Leiche wurde eingefroren, in 1871 Millimeter dünne Scheiben geschnitten, fotografiert, digitalisiert und schließlich im InternetSystem auf die Reise geschickt [...] Mit der dazu gehörenden Software können Computerbenutzer auf der ganzen Welt Jernigans virtuellen Körper wieder dreidimensional auferstehen lassen und daran herumexperimentieren. [59]

    Ein Phantasma einer absoluten Herrschaft über Leben und Tod wird hier durchgespielt, so als sei ein Mord oder eine Hinrichtung nicht nur zu vollstrecken, sondern auch wieder rückgängig zu machen. Als gestorben und wiederauferstanden von den Toten gilt Jesus Christus, der auch als der "zweite" oder auch der "neue Adam", der neue Mensch, bezeichnet wird. Als 'dritter Adam' erschiene in dieser Konstellation der elektronisch "wiederauferstandene" und zugleich neu erschaffene "Adam", als eine 'künstliche' Erfüllung einer biblischen Geschichtsschreibung, vollstreckt von Programmierern an der Stelle Gottes. Als Knotenpunkt biblischer Motive ist der elektronische "Adam", wie er in gedruckten und TV–Reportagen erscheint, auch als eine Geschichte von Sünde, Reue und Erlösung zitiert. In der Erzählung vom Jüngsten Gericht, wie sie die Offenbarung des Johannes schreibt, werden diejenigen Toten zum "ewigen Leben" erweckt, die im "Buch des Lebens" [60] verzeichnet gefunden werden. In diesem Sinn blasphemisch implementiert wäre ein Jüngstes Gericht als Computerprogramm, das die Toten "wiederauferstehen" ließe, die als Datenset in der Digital Library verzeichnet sind, allerdings zu einer gespenstisch anmutenden Weise, die durchaus die Züge einer Verkehrung in eine "ewige Verdammnis" tragen. Denn massenhaft vervielfältigt ist diese 'lebende Leiche' den digitalen Bearbeitungen und Experimenten von Programmierern auf der ganzen Welt verfügbar. Viktor Spitzer malt in dieser Hinsicht folgendes Szenario aus:

    Eines nicht allzu fernen Tages könnte ein findiger Programmierer aus den Daten ein schrecklich realistisches Spiel entwickeln, bei dem der 'Visible Man' zur puren Unterhaltung erschossen wird. 'Das wäre entsetzlich. Aber es wird vermutlich schon bald passieren', sagte der Wissenschaftler voraus. [61]

    Allerdings läßt sich diese Befürchtung eines der Projektleiter nur schwer von offiziellen Darstellungen zukünftiger Anwendungen des Datensets "Adam" unterscheiden, die ebenfalls Bewegungssequenzen des virtuellen Körpers erarbeiten, um das Datenmaterial zu realistischer Bewegung zu erwecken.

    Teaching applications will range from identifying anatomical structures on the cross sections to visualizing full motion of the human form. It is this kind of interactive total body control and simulation (including simultaneous modeling of all the synergistic and antagonistic muscle motions) that will challenge today's best supercomputing facilities. [62]

    In einem Fernsehinterview [63] informiert auch Victor Spitzer selbst über geplante Animationen des Datenmaterials durch die Gestaltung von Muskelbewegungen, insbesondere die Hinzufügung der Bewegungsabläufe eines schlagenden Herzens, einschließlich der Simulation des gesamten Blutkreislaufs – als handele es sich um den wissenschaftlichen Einsatz derjenigen Programme für Special Effects im Spielfilm, die bei der digitalen Modellierung synthetischer Figuren genauso auf einen realistischen Eindruck der Bewegungsabläufe angewiesen sind wie die medizinische Visualisierung. Victor Spitzer erläutert jedoch noch weitergehende Absichten der "realistischen" Belebung des virtuellen Körpers. Nicht nur vorbereitete Bewegungssequenzen sollen abgespielt und modifiziert werden können, sondern auch Programme mit mathematisch unvorhersehbaren Prozessen – wie diejenigen aus dem Bereich des 'Artificial Life' – sollen auf den virtuellen "Menschen" angewandt werden. Auf diese Weise könnten auch Alterungsprozesse mit Gewebeveränderungen und anderen physiologischen Konsequenzen simuliert werden; ebenso Krankheitsverläufe, z.B. das Entstehen eines Tumors an angegebenen Stellen im Gehirn beobachtet werden. [64]

    Die geplanten Bearbeitungen des Datenmaterials "Adam" kulminieren in der Entwicklung von Virtual Reality Umgebungen, die neben dem visuellen auch ein taktiles Feedback erlauben und zur Simulation chirurgischer Eingriffe in den virtuellen Menschen dienen sollen. Der angestrebte hohe Realismus dieser Umgebung soll z.B. die Formveränderungen in 3dimensionaler Visualisierung ebenso wie den mechanischen Widerstand verschiedener Gewebe beim Schnitt mit einem virtuellen Skalpell simulieren. Anwendung soll diese zukünftige Hard und Software Gestaltung des "Visible Human" in der chirurgischen Ausbildung als Operationssimulator finden. Geprobt werden könnte dann beispielsweise auch die Entfernung eines vorher erzeugten Tumors im virtuellen Gewebe. [65]

 

Benutzeroberflächen 
    The Visual Human Viewer
    Abb. 5:  "The Visual Human Viewer. Main Panel"
Doch diesen Konzepten stehen die tatsächlichen, aktuellen Bildmöglichkeiten des Datensets "Visible Human" gegenüber. Faktum ist, daß gegenwärtig mit dem "ersten digitalen Menschen" die beschriebenen Anwendungen allesamt nicht möglich sind, – es sei denn in Form von Texten, Bildern, Filmsequenzen, Computeranimationen, die diese zukünftigen Anwendungen beschreiben, illustrieren, inszenieren – und immer wieder als "Leben" darstellen.

Was medientechnisch konkret mit dem gewonnenen Bildmaterial der männlichen Leiche für World Wide Web–Benutzer machbar ist, kann dagegen folgende Abbildung andeuten. (Abb. 5)

Dies Beispiel einer typischen Benutzeroberfläche zur Sichtung des "Visible Human" Datensets aus dem World Wide Web kann einen Eindruck davon vermitteln, was es auf bildlicher Ebene bedeuten kann, wenn Texte und Kommentare von einer "Wiederauferstehung" oder einem "Weiterleben "eines Menschen im Computer handeln.

Dieses Programm von der Syracuse University [66] erlaubt die BildfürBildAnsicht jedes photographierten Querschnitts bei Eingabe der Bildnummer. Durch die Verrechnung der einzelnen Schichtbilder zu einem Volumendatenset wurden aus den virtuell "gestapelten" Schichtbildern aus axialer Perspektive auch virtuelle Querschnitte aus koronaler und sagittaler Perspektive ermöglicht.

Diese nachträglich berechneten photorealistischen Schnittbilder gestatten den simultanen Anblick der anatomischen Gegebenheiten des Körpers aus 3 verschiedenen Schnittperspektiven. Ein Novum, denn bisher wären für 3 perspektivisch verschiedene Schnittserien drei Körper benötigt worden mit verschiedenen anatomischen Gegebenheiten. Allerdings bedarf es zur Zeit bei der Betrachtung der echten und daraus errechneten Schnittbilder des "Visible Human" noch der räumlichen Vorstellungsfähigkeit der Benutzer, um die 3dimensionale Gestalt und die Lage der Organe räumlich zu imaginieren. Kein plastischer, 3dimensionaler Effekt ist mit diesem "Visible Human Viewer" sichtbar zu erzeugen, nicht einmal eine Kennzeichnung der jeweiligen Bildteile als zugehörig zu Organen oder Körperfunktionen ist aufbar, geschweige denn eine "interactive total body control" oder die Möglichkeit zu chirurgischen Simulationen sind gegeben.

Denn die Einbindung der Daten in mögliche 3dimensionale Visualisierungen [67] und die Zuordnung der Volumenelemente zu semantischen Regionen stellt eine langwierige Programmieraufgabe dar, da jedem einzelnen Volumenelement die Attribute zugeordnet werden müssen, die seine Zugehörigkeit zu den räumlichen Strukturen und Funktionszusammenhängen bezeichnen.

Bildlegenden

    Die gegenwärtig offensichtliche Diskrepanz zwischen behaupteten und tatsächlichen technischen, bildlichen Möglichkeiten des "Visible Human" sollte jedoch nicht nur als Frage der Zeit der Programmierung nivelliert, sondern vielmehr auch in mediengeschichtlichen Konstruktionen als Lücke zwischen sprachlicher Darstellung und bildtechnisch neuen Möglichkeiten offengehalten werden. Daß auch bei rasanten technischen Fortschritten eine Lücke bestehen bleiben wird, läßt sich bereits an dieser Erzählung von den 'lebenden Bildern' und ihrer sowohl semantischen als auch medienhistorischen Wandlung ablesen. Wie schon an den 'lebenden Bildern' aus der Frühzeit des Films läßt sich an der "phantastischen Schöpfung des ersten (echten) digitalen Menschen" aus der gegenwärtigen Frühzeit der computererzeugten Bildlichkeiten ein Aufklaffen zwischen Bild und Wort deutlich wahrnehmen. So ist es zur Zeit gerade noch möglich, die Neuheit des virtuellen 'Lebens' des "Visible Human" in Fernsehberichten durch Bilder zu illustrieren, die vor über siebzig Jahren als medientechnisch neu gegolten hätten – solange noch bis Videoeinspielungen von den neuen, bis zu Ende berechneten Programmen in die Berichterstattung eingeblendet werden können.

    Denn es zeigten die ersten sensationellen Bilder, die vom "ersten digitalen Menschen" international über das Fernsehen vereitet wurden, nur eine wirkungsvolle Dynamisierung der einzelnen nacheinander geschalteten Querschnittsphotographien der Leiche. Statt langsam als photographische Einzelbilder nacheinander zu erscheinen, wurden die photographierten Bilderserien der Leichenschnitte in schneller Folge zu einer filmischen Bewegung verschmolzen. [68] Eine Tiefenillusion, wie sie zweidimensionale Bildmuster durch sukzessive Größenveränderung einzelner Elemente erzeugen können, bewirkte hier den Eindruck eines Fluges durch einen widerstandslos sich öffnenden Körper, vom Kopf zu den Füßen. Die angekündigte, jedoch noch bilderlose computererzeugte 3Dimensionalität eines "digitalen Adams" wurde mit eindrucksvollen, jedoch genuin filmischen Bildsequenzen verbildlicht. Die medienwirksame TV–Erzählung von der Erschaffung eines neuen künstlichen Menschen im Computer setzte somit ganz auf die retrospektive Abbildung der Effekte, die ein Messer erzielt, das eine gefrorene Leiche Schicht für Schicht abhobelt und die Wirkung, die eine zum Film montierte Serie von Photographien immer noch verspricht. Gezeigt wurde hier wieder genau der bekannte Typus des 'lebenden Bildes', wie ihn einst der Film verkörperte. [69] Diese offensichtliche NichtÜbereinstimmung zwischen Worten und Bildern des "digitalen Adam" ist so in den frühen Fernsehberichten historisch konserviert, das neue 'Leben' dieser Bilder visuell als filmische Bewegungshalluzination interpretiert. [70]

    Die Fernsehbilder, auf denen die Messer der Schneidevorrichtung und die Photokameras über der Leiche gezeigt werden, versuchen in bildlicher Narration etwas anschaulich darzustellen, was unmöglich anschaulich zu machen ist, den historischen Übergang von analoger zu digitaler Bildlichkeit. Statt die Eingabe bestimmter Algorithmen zu visualisieren, werden medienwirksame Schnitte durch einen menschlichen Körper gezeigt. Könnten diese anachronistischen Elemente der TV–Erzählung vom neuen "digitalen Menschen" aber vielleicht doch etwas von den neuen Eigenschaften der Bildlichkeit übersetzen?

 

Imaging the Cadaver

    Wenn es nur so wäre, wie es eine Web Page der Scientific Computing Division der University of Colorado beschreibt [71], daß nach dem Abtragen jedes weiteren Millimeters der Leiche, nach jedem Schnitt mit den Klingen des Spezial–Makrotoms sich etwas Atemberaubendes den Augen enthüllte, die "Schönheit" [72] jedes Schnitts als Schönheit jedes neuen Bildes des Körperinneren, dann ist das schon viel, – was einen Wunsch nach Sichtbarkeit anspricht, an dem die Augen übergehen können. "Imaging the Cadaver" meinte so nicht nur das Faszinosum einer medientechnisch neuen, noch nie gesehenen Bildlichkeit, sondern zugleich den konkreten Zugriff auf eine Leiche, den direkten Zugang zu ihren noch unberührten, ungeöffneten Körperregionen, die Scheibe für Scheibe durch die Klingen dem Blick des Wissenschaftlers entblößt werden. Aber das ist nicht neu und nicht alles.

    Denn dieser ganze aufgeschnittene Mensch als Projekt eines wieder zusammengefügten virtuellen Bilderstapels verkörpert eine neue Auffassung des 'Menschen' als "volume data set", als geometrischer Raum. Nicht nur die materiellen Körpergrenzen, ein Innen und ein Außen werden irrelevant, der ganze Körper wird vollständig zerstört und als Hobelspäne im Submillimeterbereich abgetragen zur Erzeugung immer neuer Bildflächen. Voraussetzung für diese Schnitte ist eine materielle Fixierung des Leichenkörpers in eine homogene Masse, eine blaue Gelatine, die sowohl die Hohlräume des Körpers ausfüllt als auch den gesamten Körper quaderförmig umschließt. Dieser gefrorene blaue Block könnte nicht nur in den Fernsehberichten sondern auch in diesem Text ein anschauliches Bild desjenigen Raums vermitteln, der als virtuelle 3dimensionale Räumlichkeit im Computer aus den Photographien errechnet werden wird, und der das "entire human being" als Volumendaten repräsentieren soll. Der neue "digitale Adam" muß als aufgeschnittener Quader aufgezeichnet werden, denn er ist genau diese räumliche Information. Das hieße, das sich ankündigende neue "human being", als interaktive Simulation ist unter der Maßgabe einer vermeintlich lückenlosen Sichtbarkeit als geometrischer Raum entworfen.

    Daß Ansichten aus jeder gewünschten Perspektive erzeugt werden können, virtuelle Schnitte, die immer neue Einblicke gewähren oder auch ein beliebiges Eindringen in diesen Raum möglich wird, wie bei einer Fahrt in einen Tunnel, stellte die kinematographische Interpretation dieses neuen virtuellen Raumes dar. Derartige Computeranimationen von VolumenDaten sind in der äußeren Gestalt wie ein gesteigertes, vervielfältigtes Kinoerlebnis entworfen und können sehr wirkungsvoll mit der neuen Bildfunktion des ' Artificial Life' kombiniert werden, in der jeder Bildpunkt als Zelle in einem Bilduniversum – als 'lebendige Information' gilt. Die Weiterentwicklung des künstlichen digitalen Menschen "Adam" als neuer 'Lebensform' zielt auf diese effektive Kombination dokumentarischer Aufzeichnung mit den programmierten Regeln der Bildveränderung und Animation.

    Bis zur Ununterscheidbarkeit verwandeln sich in solcher Bildlichkeit die Kategorien von Dokument und Fiktion. Ein paradoxaler abbildlicher Realismus wird in diesen Entwicklungen konzipiert, der die dokumentarische Funktion z.B. photographischer Abbildung mit dem anderen Realismus der Animation und Simulation in der virtuellen Realität kombiniert oder die virtuelle Körperdarstellung mit Programmen "infiziert", die "autonom" bildliche Veränderungen produzieren.

    Als Statthalter des Referenten und der Materialität fungierten dann "selbstorganisierte" Bildbewegungen eines 'Datenkörpers'. Die Zeitlichkeit solchen 'Datenkörpers' hätte allerdings diejenige einer filmischen Aufzeichnung verändert. In einer hypothetischen Zeit der Simulation ohne rekonstruierbaren Anfang und Ende, Original und Bearbeitung – liefen die Sequenzen ab. Jedem Volumenelement käme bei exakter räumlicher Verortung ein offenes, unbestimmbares zeitliches Element zu. Ein neuartiger Zustand zwischen Dokument und Fiktion zeichnet insofern die neuentworfenen 'Datenkörper' in der Logik seiner bildlichen Erzeugung ebenso wie in den Bilderzählungen der Presse und des Fernsehens aus.

    Doch was heißt es, wenn Bilder, denen stets ein Rest, nämlich z.B. das, was gerade nicht zu sehen ist, eigen ist, aufgehoben werden sollen zu einer vermeintlichen Totalität der unverstellten, vollständigen Sicht? Und was heißt es, wenn photographische Aufzeichnungen zu vergangener oder zukünftiger Gestalt hochgerechnet werden, animiert als Entwicklungssequenz? Wären das noch Bilder? Daß hier eine Bildlichkeit einer allperspektivischen, Materie und Zeit durchdringenden Potenz entworfen wird, ist nicht neu, als Wunsch einer vollständigen 'wahren' Abbildung, die 'leben' würde. Neu wäre die Form der Verwirklichung und Verfehlung dieses Wunsches, die zu einer radikalen Veränderung desjenigen führen wird, was bisher als Bild bezeichnet wurde.

    Um diese Erzählung von dem "lebenden Bild" – wie es auf dem Ladenschild der Jahrhundertwende erschien – abzuechen, sei die Prognose gewagt, daß der "Visible Human" und die ' Artificial Life'Programme dann aufhören werden zu 'leben', wenn die neuen Bildmöglichkeiten technisch realisiert worden sein werden und sich im Umgang etabliert hätten, so daß die Frage nach dem spezifisch Neuen der computererzeugten Bildlichkeiten nicht mehr durch die symptomatisch wiederkehrende Rede vom 'Leben' der Bilder verdeckt sein wird.



aus: BildKörper.
Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin,
hrsg. von Marianne Schuller, Claudia Reiche , Gunnar Schmidt, Hamburg 1998

  Artificial Life
 
 Matter Transform SequencesTM

 

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