Geisterleben. Menschenessen
Die kannibalische Ordnung und ihre magische Wirkung
von Andrea Sick

Der rituelle oder auch der magische Kannibalismus verspricht Heil. Da sind sich die verschiedenen Diskurse von Ethnologie, Soziologie, Theologie und Psychoanalyse einig. Essen um zu leben, könnte es auch heißen. Die heilbringende Struktur, die sich auf das Leben und Gesundheit bezieht, gibt Anlaß, Kannibalismus in diesen verschiedenen Kontexten als Übergangsphänomen zu bezeichnen. Dies gilt sowohl für den sogenannten realen wie auch den symbolischen Kannibalismus.
Kannibalismus als Übergangsphänomen zu verstehen, heißt davon auszugehen, daß er die Grenzen von Leben und Tod passierbar macht und "ewiges Leben" und Auferstehung ermöglicht.

 
Mein Vortrag wird die Schilderung des kannibalischen Rituals in verschiedenen Diskursen vorstellen. Daran soll deutlich werden, warum das Ritual notwendig ist, inwiefern ein "Weiterleben" und "Langes Leben" gesichert werden kann. Die Deutungsversuche gehen von einer Einteilung des Menschen in Körper und Seele aus. Insofern setzen die Interpretationsversuche die Entdeckung der Seele voraus. Was die Seele innerhalb dieser Geschichten sein könnte, soll der Vortrag vorstellen. Welche Prämissen erfordern ihre Entdeckung? Inwiefern setzt der Kannibalismus als Ritual auf ein animistisches Denksystem im Sinne Freuds, dessen Ausblick in die leibliche Auferstehung mündet? Mit der Auferstehung als Wiedergeburt in geschärftem Rahmen gedacht, als organisierte und gesteuerte Hervorbringung, wird -benutzt man die Psychoanalytische Wissenschaft und ihre Terminologie- neben der Einverleibung oder auch Oralität eine andere Topologie zur Beschreibung notwendig: die des Analen.
Der Londoner Phototheoretiker und Künstler Olivier Richon verknüpft die beiden Topologien, in dem er das Auge mit dem Mund vergleicht und in einer Übertragung der Sinne das orale und anale Sehen unterscheidet; ein Sehen, welches verschlingt und vernichtet und ein Sehen, welches kontrolliert und so etwas hervorbringt.
Eine Lektüre Richons kann deutlich machen, daß erst eine Entsprechung von Oralität und Analität den "Geisterverkehr", der das Leben sichert, hervorbringt. Die aber nicht gedacht werden können in einer Chronologie, einer Kontinuität, sondern nur als unterschiedliche Topologien.
Wäre das am Computer generierte künstliche Leben ähnlich dem, welches der rituelle Kannibalismus voraussetzt, welches mit ihm "wiederbelebt" oder "verlängert" werden soll, könnte man sagen: Der rituelle Kannibalismus hat schon lange den "Geheimcode des Lebens" geknackt und ist insofern dem Computer darin voraus.

Die Ordnung des rituellen Kannibalismus
 
Das Ritual bezeichnet laut dem Fremdwörterbuch einen religiösen Festbrauch in Worten, Gesten und Handlungen, auch die Ordnung für ein gottesdienstliches Brauchtum. übertragen wird der Begriff auch verwendet für das Verhalten oder Vorgehen nach festgelegter Ordnung in bestimmten Grundsituationen. Die Soziologie beschreibt damit eine expressiv betonte, festgefahrene Handlung ohne Nachdenken über Funktion und Sinn des Tuns. Die Völkerkunde bestimmt mit einem Ritual die nichtalltäglichen Handlungen mit traditionellem Ablauf und geht davon aus, daß Riten einen gruppenbindenden und gruppenbestätigenden Charakter haben, d.h. eine kollektive Funktion. Eine übergeordnete oder religiöse Dimension kann das Vorgehen nach festgelegter Ordnung erklären. Das Ritual organisiert übergänge von Leben und Tod und eröffnet somit die Möglichkeit von religiösen Erklärungsmustern [1].
Den Kannibalismus als Ritual vorzuführen, zeigt eine Struktur, die eine Überwindung von Tod und Krankheit möglich zu machen scheint. Eine Angst kann strukturiert , aber nie ganz verdrängt werden. Sie kehrt in der Theorie Freuds als das Unheimliche wieder. (Dieses System, Grundlage für den Kannibalismus, ist nach Freud auch das der Zwangsneurose, die versucht Ängste mit der Schaffung von systematischen Zusammenhängen zu bewältigen.) Das kannibalilische Ritual wird das Unheimliche, die Geister, den Tod, nie ganz überwinden können. Deshalb muß es ständig wiederholt werden. [2]

 

Der französische Soziologe Attali machte schon in den 80er Jahren die "kannibalische Ordnung", die versucht Tod und Leiden abzuwenden, zum Ausgangspunkt seines Buches mit dem Untertitel "von der Magie zur Computermedizin". [3]

Er schreibt:

"Den anderen zu essen, um zu leben, ist in Wirklichkeit die menschliche Strategie gegenüber dem Leiden." (...)"Trotz unterschiedlicher Erscheinungsformen stellt der Kannibalismus in allen Fällen eine Möglichkeit dar, mit der Bedeutung, die die Toten gegenüber den Lebenden darstellen, fertigzuwerden. Also eine Möglichkeit gegen die Krankheit anzukämpfen." (...) "Der Verzehr der Toten deutet auf eine (andere) Rolle hin: Sein Fortbestehen (des Kannibalismus) weist unaufhörlich auf die Absonderung von Seele und Körper, auf die Assimilation der Kraft der Toten, auf die Aneignung der Ewigkeit."

GEIGENSPIEL

Der rituelle Kannibalismus wäre verkürzt auf die Formel zu bringen: Der Körper eines Menschen wird aufgegessen, um die geistigen Kräfte und Eigenschaften dieses Menschen abzuwehren und sich anzueignen.

Attali vergleicht den Kannibalismus mit den Beerdigungsriten und anderen Bestattungsformen. Diese versteht er als Maskierung des eigentlichen, zeitlich früher einzuordnenden Kannibalismus, der heute nur noch gelegentlich betrieben wird. Die Beerdigungsriten verfolgen also das gleiche Ziel, halten aber die Maske vor, so Attali. Ich ziehe nun in Zweifel, ob diese Unterscheidung zwischen Realem und Maskerade möglich ist, ob der Kannibalismus nicht immer in seiner Maske auftritt. Denn ist für die Entdeckung der Ordnung des Realen rituellen Kannibalismus nicht eine Wahrnehmungsstruktur notwendig, die schon vor ihm dagegewesen sein muß? Insofern wäre auch er nur Maskerade dieser Struktur. Tritt der Kannibalismus in einem solchen Kontext nicht immer als Ritual auf. Und das Ritual mit seinen Wiederholungen und magischen Wirkungen wäre die Maske. Doch kann hinter der Maske nichts liegen, auch nicht die Struktur, gäbe es nicht die kannibalische Handlung. Insofern bleibt der Kannibalismus immer Maskerade. Anders formuliert: Der Kannibalismus ist eine Figur (oder Metapher im Sinne Lacans) die einen Sinneffekt bewirkt, die die Möglichkeit bietet zu verdrängen, zu verstecken, zu verstellen.
 
 
Maskeraden des Kannibalismus
 
Die Maskerade des Kannibalismus kann so noch deutlicher vor Augen geführt werden. Es berichtet der Ethnologe Clastres um 1970 von den Guayaki-Indianern [4]:
"Wenn die Guayaki ihre eigenen Toten essen, so tun sie es, um ihren Gefährten ihren Körper als Grab zur Verfügung zu stellen, damit die Seelen der Toten nicht zurückkommen und sie krankmachen (...) Man baut den Ofen, den "Byta", auf dem alle Toten, außer den kleinen Kindern, geröstet werden. (diese werden in Lehmtöpfen gesotten) (...) In der Zwischenzeit hat sich die Gruppe des Leichnams angenommen. Mit seinem Bambusmesser
Zerteilungsplantranchiert
ein Mann die Körperteile. (...) Kopf und Glieder werden vom Rumpf abgetrennt, Arme und Beine ausgerenkt, Organe und Eingeweide werden entfernt. Der Kopf wird sorgfältig rasiert und zwar Bart und Haare, falls es sich um einen Mann handelt (...) Im Gegensatz zu den Muskelpartien und den Organen - dem Fleisch also - werden Kopf und Eingeweide in Töpfen gekocht. Wenn es gut durch ist, d.h. keine Spuren von Blut mehr zusehen sind, wird das Fleisch unter den Anwesenden aufgeteilt. Der Kopf ist - wie der Kopf der Tiere- den alten Männern und Frauen vorbehalten; den jungen Jägern aber ist es verboten, davon zu essen. (...) Was den Penis angeht -wie der Kopf gekocht- so ist er immer für die Frauen bestimmt, insbesondere für die Schwangere. Dadurch erhalten sie Gewißheit, daß sie einen Jungen das Leben schenken werden. Das menschliche Fleisch wird mit Gemüse gereicht: Mark und Knospen der Pindo Palme (...). Das Gemüse ist nicht einfache Beilage, sondern erfüllt eine bestimmte Funktion: Es soll die außerordentliche "Zähigkeit", die "allzu große Kraft", das "Myrakura", neutralisieren, das aus menschlichem Fleisch Nahrung macht, die von allen anderen verschieden ist und die für jene gefährlich werden kann, die sie ohne Beilage essen (...)."
Der kannibalische Konsum erscheint in dieser Beschreibung zweideutig: er ist gefährlich und stellt doch eine Notwendigkeit dar. Clastres berichtet die Erzählung eines Guayaki-Indianers: "Wenn man die Toten nicht ißt, muß man Angst haben. Wenn man sie ißt, hat man Ruhe, das Herz klopft nicht: die Angst ist eine tödliche Krankheit".
Clastres gibt folgende Erklärung: Der Tod eines Guayaki wird von allen anderen als Gefahr empfunden, weil er eine Seele freisetzt. Diese Seele wird versuchen, andere Körper mit sich zu ziehen und ruft so Angst, Krankheit und Tod hervor. Das Verzehren der Toten führt zur Heilung: In dem der Körper gegessen wird, wird die Seele vom toten Körper getrennt und die Verbindung zwischen einem lebenden Körper und einer toten Seele verhindert.

Die Konsumtion des Leichnams, so Attali, stellt eine Form dar, das Böse auszutreiben, die Seele vom Leib zu trennen.
Mit der Psychoanalyse Freuds können die von mir mit Clastres und Attali vorgeführten Interpretationen weitergetrieben werden. Es wird von einer ambivalenten Einstellung zum Tod ausgegangen, die sich mitunter bei den sogenannten Primitiven in einer gleichzeitigen Dämonenfurcht und -verehrung bzw. in der Vaterliebe und dem Vaterhaß ausdrückt. Nicht nur das "Böse" wird ausgetrieben sondern Eigenschaften werden durch die Einverleibung übernommen. Hieraus werden dann Diätregeln verständlich: Freud zeigt in "Totem und Tabu" mit seiner Lektüre des Ethnologen Frazer, daß der Kannibalismus der Primitiven seine sublimere Motivierung aus einem sogenannten "magischen Band" ableitet. In dem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich die Eigenschaften an, welche dieser Person angehört haben. Hieraus ergeben sich vielfältige Diätregeln. z.B. eine Frau wird in der Gravidität vermeiden, das Fleisch gewisser Tiere zu genießen, weil deren unerwünschte Eigenschaften z.B. die Feigheit, so auf das Kind übergehen könnten. In Bezug zur Totemmahlzeit bezeichnet Freud mit dem Völkerforscher Robertson Smith das Opfermahl und den Verzehr des Totem als das Bindemittel der menschlichen Gruppe . Er stellt fest: Wer auf diese Weise das geopferte Leben in sich aufgenommen hat, identifiziert sich mit dem Totem und sichert sich das ewige Leben. Es geht also um Vernichtung, Austreibung oder Übernahme der Seele oder Eigenschaft einer toten Person, um länger oder besser zu leben. Es geht insofern um Identifizierung durch Einverleibung, was auch heißt, eine Liebe zum Objekt, die auch dessen Vernichtung zur Folge hat.  [5]

 

Mulder und Scully im Flugzeug

Ein ähnliches Motiv war auch Anlaß für eine Folge der TV-Serie AkteX - die unheimlichen Fälle des FBI. Kanibalismus als Phänomen des Unheimlichen, als Faszinosum, bot sich geradezu als Stoff für diese TV-Serie an.
Mulder und Scully, die das spurlose verschwinden eines Mannes in einem Hühnerschlachthof untersuchen, werden Zeugen, wie eine der Fließbandarbeiterinnen plötzlich wahnsinnig wird und eine Geisel mit ihrem Messer bedroht. Einer der Sicherheitskräfte erschießt die junge Frau.
Bei der Obduktion stellt Scully fest, daß die Frau an einer seltenen Krankheit litt, die durch infiziertes Fleisch übertragen wird - dieselbe Krankheit, an der auch der verschwundene George Kearns litt. Mulder hingegen findet heraus, daß die Tote keineswegs so jung ist, wie sie aussieht - sondern 47 Jahre.
Im Abwasserfluß des Schlachthofs werden große Mengen von Knochen gefunden - Menschenknochen, deren Fleisch säuberlich abgelöst wurde. Ein schrecklicher Verdacht scheint sich zu bestätigen: Die Bewohner der Stadt frönen Kannibalismus.
In dem Fernsehfilm selbst, der 1996 auf Sat1 ausgestrahlt wurde, und in Büchern, die die Wahrheit um die AkteX aufdecken sollen, werden die Hintergründe offengelegt:
Das Dorf imitierte ein Ritual der Ureinwohner von Neuguinea. Obwohl Neuguinea, wo Chaco, der Hühnerbaron, mit seinem Flugzeug abstürzte, eine der größten Inseln der Welt ist, ist sie gleichzeitig eine der am dünnsten besiedelten - was manche auf die lange Tradition des Kannibalismus zurückführen. Kannibalismus ist bei allen drei großen Stammesgruppen der Insel angeblich bekannt: den Papuanern, den Melanesiern und den Pygmäen. (...)  [6]
Der Krieg wurde bei den Papuanern als heilig angesehen. Heilige Männer sorgten bei jedem größeren Gefecht dafür, daß keine Kampfregeln übertreten wurden. Ihre wichtigste Aufgabe war es, sich sofort auch um die Seele eines erschlagenen Feindes zu kümmern, denn es galt als skrupellos, die Feindesseele in der Geisterwelt herumirren zulassen. Dies führte zum Kannibalismus.
Die ethnologischen Berichte werden als Vorlage für die AkteX "Unsere kleine Stadt" angeführt. Sie machen es von daher möglich, diese Folge ähnlich wie alle anderen Folgen so realistisch wie einen Zeitungsartikel anzubieten und gleichzeitig eine endgültige Lösung offen zu lassen, das heißt ungeklärt zu lassen, ob hier ein authentischer Fall berichtet wird oder eine Fiktion.

Alle Beispiele können zeigen, daß ein Weiterleben oder ein längeres Leben gesichert werden soll . Sie dienen dazu die Macht über den Tod zu gewinnen.
Das gelang auch Hänsel und Gretel in dem wohl allen bekannten Grimmschen Märchen, als sie die Hexe austricksen konnten und statt Hänsel oder Gretel die Hexe selbst zum Braten im Ofen wird:
"Kriech hinein sagte die Hexe, und sieh zu, ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschließen können. Und wenn Gretel darin war, wollte sie den Ofen zumachen und Gretel sollte darin braten und dann wollte sies aufessen. Aber Gretel merkte, was sie im Sinn hatte und sprach: Ich weiß nicht, wie ichs machen soll; wie komm ich da hinein? Dumme Gans, sagte die Alte, die Öffnung ist groß genug, siehst Du wohl, ich könnte selbst hinein.(...) Da gab Gretel ihr einen Stoß, daß sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor."  [7] Gretel konnte den Spieß umdrehen, das Unglück abwenden, selbst gegessen zu werden und machte die Hexe selbst zum Braten. So konnten die beiden - Hänsel und Gretel- weiterleben.
 
 
Prozesse der Verwandlung und das christliche Abendmahl
 
Der kannibalische Akt erscheint bei all diesen Beispielen verschiedenster Texte, Kontexte und Zeiten als ein Prozeß der Metamorphose: er verwandelt Totes in Lebendes. Der Bezug zum christlichen Abendmahl kann genau an diesem Ort hergestellt werden. Denn die Verwandlung sichert auch im christlichen Kult das "ewige Leben".
Beginnen wir mit einer elementaren Beobachtung: Wenn der Pfarrer den Kelch reicht, sagt er z.B.: "Christi Blut für dich vergossen. Das stärke und bewahre dich zum ewigen Leben" Es handelt sich um eine Art Opferblut. Wir trinken Christi Blut. Man hört es und trinkt Wein. Der Wein ist das Blut Christi.  [8]
Durch das Trinken des Blutes, welches Wein ist, also einen symbolischen kannibalischen Akt, wird eine Lebensverbindung mit dem "Herren" (Gott) versprochen. So heißt es in dem 1. Brief des Apostel Paulus an die Korinther (10.21.) [9]:
"Ihr könnt nicht den Kelch des Herrn trinken und den Kelch der Dämonen. Weiter heißt es bei Paulus:
"Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, tut dies sooft ihr trinkt zu meinem Gedächtnis". Das Essen und Trinken vom Leib und Blut Christi stiftet insofern die Gemeinschaft, den Bund, Vorbedingung für das ständige personale "Bleiben" in Jesus und das "Leben" durch ihn. Dies wird präzisiert in den Evangelien und den Abendmahlserzählungen. Seine sakramentale Drastik gewinnt es im Johannes-Evangelium, (6.53): "Jesus aber sprach zu ihnen: "Wahrlich, wahrlich ich sage euch: wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esset und sein Blut nicht trinket, habt ihr nicht Leben in euch. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage (...) wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm."
Das Sakrament bringt Tod und Leben erneuernd zusammen. Doch wie wird der Tod Christi, in gewisser Hinsicht der exemplarische Tod (denn Christus ist der allgemeine Mensch) hier aufgefaßt? Man könnte interpretieren: Der Tod Christi ist nur der andere Zustand des unsterblichen Geistes. Es ist sein dinglicher, materieller Zustand. Damit löst das Sakrament das Problem der platonischen Philosophie - die Kluft zwischen Materie und Geist - auf. Es ordnet Tod und Leben wie Materie und Geist einander zu. Wenn man zeigen kann, daß der Tod ins Leben übergeht, so kann man zeigen, daß das Ding in Geist übergeht. Das Ding ist nur ein anderer Zustand des Geistes. Dann ist dem Tod sein Stachel genommen wie es auch in dem 1. Korintherbrief (15.55) heißt: "Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes ist die Sünde, die Macht der Sünde ist das Gesetz."
Ähnlich den Beispielen des rituellen Kannibalismus, wird hier die Motivierung für das Mahl - ein symbolischer kannibalischer Akt - eben auch in einer Verlängerung des Lebens, in einer Schuldbefreiung, im Freispruch von der Sünde in einem ewigen Leben, d.h. in der Überwindung des Todes gesehen. Ist das Mahl so als ein Opfermahl zur Befreiung von der Schuld zu bezeichnen?
Im Opferkult wird durch ein Menschenopfer oder auch ein Tieropfer, welches das Menschenopfer ersetzt, zugleich gesühnt und eine Gottheit geehrt. Das Tier selbst kann die Gottheit gewesen sein. Zum Beispiel wurde im Totemismus so berichtet es Freud mit Smith und auch Frazer in "Totem und Tabu",, das Totemtier, welches den geliebten und gefürchteten Vater repräsentiert, trotz der Scheu von Zeit zu Zeit in feierlicher Gemeinschaft getötet und gegessen. Dadurch entstand ein heiliges Band zwischen den Com-mensalen. Das heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertig sich, indem nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt werden kann, welches die Teilnehmer untereinander und mit ihrem Gotte einigt. Eine Blutsgemeinschaft entsteht durch den physischen Prozeß der Opfermahlzeit.
Anders das Christentum. Das Opfer ist durch das Selbstopfer Gottes abgeschafft. Es wird kein Opfer wie im Totemismus dargebracht. Im 9. Kapitel des Hebräerbriefs wird ausgeführt: Das Opfer Christi hat alle menschlichen Opfer überboten und dann sozusagen ausgesetzt. Denn es war ein absolutes Opfer. (ein Holocauma - ein Ganzopfer) Es hat im Himmel stattgefunden, im Urbild des menschlichen Tempels, des himmlischen Tempel. Christus, der himmlische Priester hat nicht wie der jüdische Hohenpriester ein Opfertier dargebracht, sondern sich selbst. In diesem Sinne ist das Christentum kein Opferkult. Dieses Ereignis kann menschlich nicht eingeholt werden, es kann nur dargestellt und repräsentiert werden.
Die Wandlung des Brotes und Weines repräsentiert das Selbstopfer Christi. Das Opfer hebt sich hier einerseits selbst auf, denn im Himmel gibt es keinen Tod. Doch wird gleichzeitig die Hingabe an den Tod notwendig, der Selbstverlust.
So kündet das christliche Abendmahl in dieser Darstellung von einer Transubstantiation (Wesensverwandlung). Die Substanz der Materie verwan-delt sich in die Substanz des Geistes der Person. Sie wird unternommen zur Demonstration der Vergebung, Befreiung von der Todesangst  [10].
Religionswissenschaftlich gesehen, werden Brot und Wein durch Beschwörung, zentral die Einsetzungworte in Leib und Blut verwandelt. Die Schellen, die genau im Moment der Wandlung ertönen, geben ein rituelles Signal; sie fordern dazu auf, eine andere Substanz zu erwarten. Sie selbst scheinen schon der anderen Substanz anzugehören.
Obwohl bei Johannes der antidoketische (Doketismus: Sektenlehre frühchristlich die Jesus nur einen Scheinleib zuschreibt) Sakraments-Realismus betont wird, wird auch dort formuliert, daß ohne das Wirken des "Geistes" eben "Fleisch" nicht zu Leben führen kann. "Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu Euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben." Damit die Worte Brot und Wein verwandeln, wird ihr Geist vorausgesetzt. Der Geist wird sich einverleibt. Das Medium, mit dem Vokabular des Spiritismus und nicht der Bibel sprechend, ist der Körper, das Fleisch und Blut, das verwandelte Brot und der verwandelte Wein. Sitz des Geistes, der Seele und zugleich Körper sind Wein und Brot und deshalb auch Fleisch und Blut. Die Verwandlung scheint eine Grenze passierbar zu machen: die Grenze von Leben und Tod. Die Schellen, die sphärischen Klänge des Jenseits, die der Meßdiener läutet, läuten das kannibalische Phänomen des Übergangs ein. Sie sind das Zeichen, welches besagt, die tote Materie ist lebendig. Der so christliche Kannibale nimmt das Zeichen ernst und ißt das Belebte, um selbst ewig zu leben. Das Ewige Leben wird erhofft durch die Auferstehung des Fleisches. Insofern wäre der gläubige Christ der Kannibale.
Doch es scheint genau an dieser Stelle einen Unterschied zu geben: der rituelle Kannibale ißt nicht das Belebte, sondern er ißt den Körper des Leichnams, in dem noch die Seele lebt. Er weiß, der Körper ist tot. Doch ist er wirklich so tot? Denn er ist fähig Eigenschaften zu übertragen, die einzelnen Körperteilen zugeordnet sind. Ist er nur das Medium in einem Geisterverkehr? Wie sieht das Verhältnis von Seele und Körper aus?
Die Rede über Kannibalismus überhaupt impliziert, sowohl in den christlichen als auch in den anderen ethnologischen Beispielen, das Sprechen über Körper und Seelenvorstellungen.
 
 
Die Entdeckung der Seele und die magischen Wirkungen des Kannibalismus
 
Die Entdeckung der Seele ist Voraussetzung für eine magische Wirkung des Kannibalismus. Inwiefern hängen aber Körper und Seele zusammen? Inwiefern ist die Seele Form des Körpers und zugleich unabhängig von ihm? Wie kann also die Seele als Ganze Form des Leibes sein, während doch das Wichtigste an ihr von allem Körperlichen absolut getrennt ist? Hier sollen verschiedene Diskurse, die ineinander greifen vorgestellt werden. Im mittelalterlichen Seelenglauben nach Thomas von Aquin gibt es Formen, die sich nicht mit dem Erscheinungsbild der Dinge decken, sondern die eine darüber hinausgehende unsichtbare Wirkkraft besitzen wie der Magnet, der Jaspis u.a. Je mehr eine Form supergrediere, umso vollkommener sei sie. Die menschliche Seele besitze den vollkommensten Grad der Supergredienz, d.h. den vollkommensten Grad einer unsichtbaren Wirkkraft.
Mit Hilfe der Supergredienz wird auch deutlich, in Thomas Seelenauffassung geht es nicht an, die Seele der Materie konträr zu verstehen, sondern möglichst vollkommen von der Materie gelöst zu sehen.
Um das Wesen der Seele zu erklären, nimmt Thomas einmal seinen Augang von der Betrachtung des menschlichen Körpers und des Phänomen des Lebens, ein andermal von der Tatsache der Erkenntnis, die die außen existierende Welt in uns nocheinmal, wie er sagt, zu einer intellektuellen Erkenntnis bringt. Die Seele steht insofern nicht nur im Zusammenhang mit den leibgebundenen Tätigkeiten. Sie ist auch zuständig für die intellektuellen Tätigkeiten des Menschen, sie muß sie unabhängig vom Leib ausüben. So ergeben sich die beiden Notwendigkeiten: 1. Die Seele ist eine Form, nämlich Form des Körpers und 2. Die Seele ist ein Einzelwesen. Die Seele ist also in dieser Vorstellung Form eines Dings und zugleich selbstsubsistent.  [11]
 
Die Seelenvorstellungen des Völkerpsychologen Wundt, als auch die Lektüre von Freuds Religionswissenschaftlichen Schriften sowie Vorstellungen aus dem Spiritismus im 19. Jahrhundert können herangezogen werden, um die Bestimmung der Seele als Einzelwesen und Teil des Körpers weiter zu differenzieren. Wundt schreibt 1906, daß die Seelen ursprünglich als den Individuen sehr ähnlich vorgestellt werden und erst im Laufe einer langen Entwicklung die Charaktere des Materiellen bis zu einem hohen Grad von Vergeistigung abgestreift haben. Nach der Völkerpsychologie ließe sich die Seele also folgendermaßen vorstellen:
"Der Mensch fand sich veranlaßt überhaupt "geistige" Mächte anzuerkennen, d.h. solche, die mit den Sinnen, speziell mit dem Gesicht nicht erfaßt werden können, aber doch unzweifelhafte, sogar überstarke Wirkungen äußern." "Wenn wir uns dem Zeugnis der Sprache anvertrauen dürfen", so "war es die bewegte Luft, die das Vorbild als Geistigkeit abgab, denn der Geist entlehnt den Namen vom Windhauch" (animus, spiritus; hebr. ruach, Hauch)  [12].
 
Damit war die Entdeckung der Seele gegeben als des geistigen Prinzips im einzelnen Menschen. Die Beobachtung fand die bewegte Luft im Atmen des Menschen wieder, das mit dem Tode aufhört; noch heute haucht der Sterbende die Seele aus. Ist die Seele Luft und insofern auch Atem kann sie dem Körper entweichen und hauslos umherwandern. Wird sie als hauslos oder -wechselnd gedacht, entspricht sie einem selbsubsistenten Einzelwesen. So präzisiert z.B. ein Seelenloch, eine runde ovale künstliche Öffnung in Behausungen oder Gräbern, welches den Seelen den Ein- und Austritt zu ihren Körpern ermöglicht, diese Vorstellung.  [13]
Mit den Seelen als Einzelwesen, die umherwandern und beseelen, d.h. Hüuser wechseln, wäre die Grundlage für ein animistisches Denksystem gelegt. Der Animismus im engeren Sinne, so schreibt Freud, heißt die Lehre von den Seelenvorstellungen, im weiteren die von den geistigen Wesen überhaupt. Freud formuliert das so: Dem Menschen war das Geisterreich eröffnet; er war bereit, die Seele, die er bei sich entdeckt hatte, allen anderen in der Natur zuzutrauen. Die ganze Welt wurde beseelt...  [14] Denn die Seele des einzelnen Menschen wurde auch der Natur und den Dingen zugetraut. Die Geister wurden als sich verselbständigende Seelen vorgestellt. Das animistische System, so scheint es in der psychoanalytischen Arbeit, will seiner Geister, den sich verselbständigenenden Seelen, Herr werden. Dazu braucht es die Magie. Eine der magischen Techniken ist der Kannibalismus.
Um zu klären, funktionieren könnte, wird noch eine andere Erklärung Freuds für die Entdeckung der Geister notwendig: "An der Leiche der geistigen Person ersann der Mensch die Geister, und sein Schuldbewußtsein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt war, bewirkte, daß diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden, vor denen man sich ängstigen mußte. Die physischen Veränderungen des Todes legten ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib und in eine - ursprünglich mehrere- Seelen nahe; in solcher Weise ging sein Gedankengang den Zersetzungsprozeß, den der Tod einleitet, parallell." Die späteren Existenzen waren, so Freud, nur Anhängsel und geringgeschätzt. Erst später brachten es die Religionen zustande, die Nachexistenz für die wertvollere, vollgültige auszugeben und das durch den Tod abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herabzudrücken.
Der Animismus mündet bei Freud in die monotheistische Religion, jene die den Armen im Glauben beneidenswert erscheinen muß, da sie von der Existenz eines höchsten Wesens, eines großen Geistes ausgeht, der selbst keine Probleme hat, weil er alle Einrichtungen der Welt geschaffen hat.
Während nun der Singular des Geistes die beruhigende Semantik einer kategorialen Verortung mit sich trägt - Geist ist das Apriori eines vernuftbegabten Wesens - verbirgt die Pluralisierung des Geistes (die Geister also) eine disseminierende, verstörende Präsenz, die weder Ort noch Zeit kennt, aller Anschauung (im Kantschen Sinne) fremd ist.
Die Geisterwesen bestehen in einem oszillieren zwischen Erscheinung und Verschwinden.
Das kann auch der Kannibalismus nicht verhindern. Denn die Geister kommen wieder, man kann nie ganz sicher sein. Das Ritual muß immer wiederholt werden.
Ein solches animistisches System macht deutlich, daß es dem rituellen Kannibalismus als Denksystem zu Grunde liegen muß, sofern seine Erklärung im ewigen Leben gesucht wird.
Im Akt des Verschlingens wird der Tod aufgehoben, die Differenz von Tod und Leben ausser Kraft gesetzt. Der Tod wird überschritten, in dem Totes belebbar wird, in dem neues Leben hervorgebracht wird. Die Auferstehung liegt nah.
 
 
Die orale und die anale Topologie des Sehens
 
Bevor ich aber genauer auf das Phänomen "Auferstehung" und was seine Beschreibung innerhalb verschiedener Kontexte bedeutet und bewirkt, eingehe, möchte ich einen kurzen Exkurs begehen, der ein Werkzeug sein kann, die einverleibten Brocken nicht im Hals stecken lassen.
Das Phänomen "Kannibalismus" und die Hervorbringung eines neuen Lebens soll anhand der Theorie von Olivier Richon betrachtet werden [15]: Richon vergleicht auf dem Grund psychoanalytischer Theoriebildung das Sehen und das Essen. Eine Sinneserfahrung wird auf eine andere übertragen. Er vertritt dabei die Theorie eines oralen und eines analen Sehens in Anlehnung an Freud.
Ein Zusammenhang von visueller Repräsentation und Mund zeigt sich, wenn z.B. Otto Fenichel in der Zeitschrift für Psychoanalyse 1935 die Kamera "ein fressendes Auge, dessen Blick sich die Außenwelt einverleibt, um sie später wieder zu projizieren", nennt. Berichtet wird auch von der Furcht des Schriftstellers Balzac für den eine Poträtsitzung gleich dem Abziehen von Haut war. Man könnte vermuten, es bestehe also bei Balzac eine Angst davor, von dem photographischen Apparat gehäutet, verschlungen und gegessen zu werden. Die Kamera wäre so eine Maschine, die auf Betrachtung und Einverleibung setzt. Das Einverleibte wird dann wieder hervorgebracht, projiziert. Von Richon wird dieses dem Essen vergleichbare Sehen als "Oral Vision" bezeichnet.
Neben dem Mund der einverleibt, der für diesen Vergleich herangezogen wird, zeigt Richon mit einer Lektüre Derridas Lesen von Kant, daß der Mund noch eine andere zentrale Rolle spielt. Das ist kein Mund der einverleibt, sondern einer der diktiert und Regeln ausspricht. Der Mund, der auch das Geschmacksurteil im Sinne Kants, den reinen Geschmack, fern den Sinnen ermöglicht.
Zitat Kant: "Im Bett vom Durst geweckt widersteht der Philosoph der Versuchung aufzustehen, um ein Glas Wasser zu holen. Stattdessen beginnt er langsam und schwer durch die Nase zu atmen, und versucht die Luft zu trinken." Ein Trinken fern den Sinnen.
Wäre die Analität die Phase der Diktion, Selbsterzeugung und Kontrolle, könnte man mit Richon sagen: Analität meistert die Oralität. Analität wäre das Zeitalter des Dunkels, diese "satanische Phase", mit der organischen Metaphorik Richons beherrscht von der Erziehung des Schließmuskels. Ein Teil von einem selbst wird in ein äußeres Objekt verwandelt; man wird zum Erzeuger seiner selbst, zur eigenen causa sui.
Will man das anale Sehen begrifflich erfassen, könnte man damit beginnen, sich zu fragen, was geschieht, wenn eine Sinneserfahrung auf eine andere übertragen wird. Was ereignet sich, wenn, organisch gesprochen, der Blick auf den Anus übertragen wird?
Richon beschreibt die Furcht im Westen davor, beim Scheißen beobachtet zu werden und stellte eine Entsprechung mit dem Photo her, wenn er die Beobachtung formuliert, daß man einen starken Widerwillen von Seiten des Photographen beobachten kann, die Abzüge zu zeigen, wenn sie erscheinen, als wäre ein fremder Blick in diesem Moment der Produktion unerträglich. Die Architektur des Toilettenraumes und der Dunkelkammer weist Ähnlichkeiten in der Hinsicht auf ihr Verhältnis zum Sehen auf. Die Grenze zwischen dem, was hier wie dort sichtbar ist und dem, was halluziniert wird, ist schmal.
Der Schließmuskel wäre als Rahmen zu bezeichnen, der den übergang in den anderen Raum kontrolliert. Die Muskulatur des Rahmens hält das Objekt fest, damit es scharf wird. Ein unscharfes Objekt reißt die Begrenzungen nieder, es beginnt in eine orale Topologie einzugehen. Die Schärfe steht für den sadistischen - den diktierenden und gesetzgebenden Aspekt des Sehens. Es geht um die Kontrolle des Sehfeldes.
über visuelle Repräsentationen läßt sich aber mit Begriffen des analen Sehens sprechen. Das bedeutet: Will man einen Blick auf die Seite der Hervorbringung von Werken werfen, kann man sich die Hände schmutzig machen. Ontologisierende Theorien werden irritiert, in dem auf die Regeln und Gesetze geachtet wird. Indem beim Ende angefangen wird.
Hier kann man zur Verdeutlichung mit Richon Jonathan Swift zitieren, der davon schreibt, wie man ein Buch liest, indem man beim Index beginnt:
"von dem das ganze Buch regiert und gesteuert wird wie Fische vom Schwanz (...) So entdeckten Ärzte den Zustand des Körpers, indem sie untersuchen, was hinten herauskommt.(...) Das menschliche Leben versteht man also am besten nach der Regel des weisen Mannes, auf das Ende zu achten." (Swift, A Tale of a Tub, Oxford Universitiy Press, 1986, S.70.)
Auf das Ende zu achten, man vermutet es schon, könnte heißen, auf den Tod zu achten, was im Kontext von Kannibalismus und Abendmahl neues Leben heißt.
Was hat nun die anale Topologie des Sehens mit der magischen Wirkung des Kannibalismus zu tun? Hier wäre eine Erklärung angebracht: Die unsichtbaren Geister bzw. Seelen werden mit den Körpern verschlungen, aber sie können nie ganz aufgehen, vernichtet werden. Ein Rest bleibt. Dieser verdrängte Rest tritt als Angst in Erscheinung und wird indem es sich veräußerlicht, zum Unheimlichen. Das heimisch heimliche bricht sich von Innen nach Außen die Bahn.
Das, was Angst macht, muß kontrolliert und organisiert werden, um es scheinbar zu beherrschen. Dieser autoritäre Gestus, der in der Metaphorik Richons der Kontraktion des Schließmuskels, so der Analität entspricht, begründet den Kannibalismus. Der Glaube an die Allmacht der Geister oder auch des Geistes macht dies möglich. Das heißt mit den Geistern wird gerechnet. Gäbe es ein Geisterleben, gäbe es ein Menschenessen.
Aber indem mit der magischen Wirkung des Kannibalismus gerechnet wird, mit der Kraft des Geistes sein Leben zu erhalten, kann sie als Technik, d.h. als Magie eingesetzt werden, das eigene Leben zu kontrollieren und zu bestimmen, wie z.B. in AkteX vorgeführt wurde oder als symbolische Handlung in der abendländlischen Christologie, die Auferstehung und ewiges Leben garantiert.
So zeigen Analität und Oralität nicht eine Kontinuität, die das Phänomen Kannibalismus erklären kann- im Sinne von: was herein kommt, kommt wieder heraus- sondern als zu unterscheidende Topologien zweier Aspekte eines Phänomens.
Die Kannibalen befolgen also schon lange die Regel Swifts: das Leben zu begreifen - und begreifen heißt zuorganisieren und zukontrollieren, in dem man auf das Ende achtet. Im theologischen Sinne beantwortet der Kannibalismus eschatologische Fragen, Fragen etwa der Art, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, Fragen in der Erforschung der "Letzten Zukunft".

Toetungsvorrichtung

Der Kannibalismus ist eigentlich ganz groß in der Vermeidung des Endes. Der Kannibale, so will es diese Geschichte, ißt und ißt und ißt das Tote, um es zu vernichten, um ihm alles Leben zu nehmen. Und doch blitzt am Ende das lebende Tote auf. Die "Auferstehung" im biblischen Sinne könnte als Blitzableiter fungieren.
 
 
Physik der Unsterblichkeit und Auferstehung in der "virtuellen Realität"
 
Um diese Funktion offenzulegen soll zunächst ein Problem von Thomas von Aquin eine Rolle spielen. Er formulierte es in etwa folgendermaßen: Wenn bei der Auferstehung aller die ursprünglichen Atome, aus denen die Toten bestanden, wieder zusammengefügt werden, dann könnte Gott - rein logisch gesehen- unmöglich Kannibalen auferstehen lassen. Jedes einzelne ihrer Atome gehört doch einem anderen.  [16]
Ein Problem, welches z.B. Mary Shellys Frankenstein gar nicht kannte, da er gleich aus verschiedenen Leichen sein Monster montierte, um es dann mit der elektrischen Energie von Blitzen zu erwecken. Der sich selbst heute als Kosmologe bezeichnende populäre Wissenschaftler (promoviert auf dem Spezialgebiet globale allgemeine Relativitätstheorie) Dr. Tipler meint, daß es bei diesem Beispiel um das Problem der persönlichen Identität zwischen der ursprünglichen und der auferstandenen Person geht. Tipler versucht dieses Problem als Physiker zu lösen. Er stellt sich da ganz in die Tradition von den bekannten Physikern Penrose und Hawkins, die mit ihren globalen Raumzeitanalysen eine allumfassende Theorie beschreiben und in die Tradition der Christologie. Denn er will, so sein Votum, eine beweisbare physikalische Theorie formulieren, die besagt, daß ein allgegenwärtiger, allwissender, allmächtiger Gott eines Tages inder fernen Zukunft jeden einzelnen von uns zu einem ewigen Leben an einem Ort auferwecken wird, der in allen wesentlichen Grundzügen dem "jüdisch-christlichen Himmel" entspricht. Eine solche physikalische Theorie ist nur formulierbar, wenn ein Vorgang wie das Leben berechenbar wird. Um jedoch "für das Leben" Berechnungen anstellen zu können, ist es von ausschlaggebender Bedeutung biologische Begriffe in die Physik zu übertragen. so nimmt Tipler an, daß alle Formen von Leben den Gesetzen unterliegen, denen auch Elektronen und Atome folgen.
Die physikalische Theorie erfordert, daß wir ein menschliches Wesen als rein physikalisches Objekt, als "Biochemische Maschine" auffassen. Dies wird letztendlich möglich, wenn das menschliche Wesen mit einem Computerprogramm verglichen wird. Tipler setzt voraus: "Es gibt keine geheimnisvollen vitalen Kräfte. Die menschliche Seele ist nichts anderes als ein Computerprogramm".  [17]
Insofern geht er von einer Definiton, des Lebens im Rahmen der Informationstheorie aus, die auch in der Artifical-Life-Forschung gegeben wird. Leben wäre eine Art der Informationsverarbeitung. Oder die grund-legende Kategorie des Lebens wäre Information. Die Trägersubstanz dieses "Lebens", das als Informationsstruktur gekennzeichnet ist, gilt als variabel. Leben wäre also ein Muster von Molekülen, ein dynamisches sich stetig veränderndes Muster. Zitat "Leben ist durch natürliche Auslese bewahrte Information".  [18] Denn was zählt ist nicht das Substrat sondern das Muster.
Das beduetet auch, daß Tipler mit dem Informatiker Hans Movarek der Meinung: für die Identifikation der ursprünglichen Person mit ihrerer Simulation reicht das Wesen der Persönlichkeit aus Das Wesen stellte sich durch das Muster dar.  [19] Die Computersimulation längst verstorbener Menschen wird dann als Auferstehung bezeichnet. < Textanfang
Was heißt im Rahmen dieser Theorie Simulation, was Emulation? Bei einer Simulation wird nach Tipler ein mathematisches Modell des physikalischen Studienobjekts in einem Programm codiert. Das Modell schließt möglichst viele Attribute des realen physikalischen Objekts ein, beschränkt durch das Wissen über das Objekt und die Kapazität des Computers. Man könnte es auch so formulieren: Der Computer wird mit Attributen des Objekts gespeist. Er verleibt sie sich ein. Das Programm läuft ab und entwickelt das Modell in der Zeit. Wenn das Ausgangsmodell exakt ist, ahmt die Zeitentwicklung des Modells ziemlich genau die Zeitentwicklung des realen Objekts nach, so daß sich die wichtigsten Eigenschaften, die das reale Objekt in der Zukunft haben wird, vorhersagen lassen. Stellen wir uns eine Simulation vor, die absolut perfekt ist, nennt man das mit Tipler "Emulation". Emulation heißt übersetzt: Nachbildung, Nacheiferung. Die Anpassung und Abarbeitung des Befehlsvorrates einer Rechenanlage A durch geeignete Mikroprogrammierung in einer anderen Rechenanlage B wird als Emulation bezeichnet, so kann man es im Wörterbuch für Informatik nachlesen. Tipler bezieht den Begriff Emulation auf einen nachzubildenden verstorbenen Menschen: ein bestimmter Befehlsvorrat eines Menschen entsprechend einer Rechenanlage wird auf euine andere Rechenanlage übertragen. Das zuerhaltende Leben ist das Muster, der Befehlsvorrat, der emuliert werden soll. Ein Individuum steht im Rahmen dieser Theorie erst wieder auf, wenn er oder sie emuliert wurde, d.h. bis zum exakten Quantenzustand dubliziert. Er sieht in seinem Buch zur "Physik der Unsterblichkeit" voraus, daß die echte Emulation von physikalischen Objekten möglich ist. [20] Das entspricht auch dem, was die Artifical-Life-Forschung prognostiziert, daß "Innerhalb von fünfzig bis einhundert Jahren voraussichtlich eine neue Klasse von Organismen entstehen ".
Diese auferweckten Individuen werden so Tipler die "Virtuelle Realität" oder den "kybernetischen Raum" bewohnen."
Die Simulation längst verstorbener Menschen ist also nur dann eine Auferstehung, wenn von der Mustertheorie ausgegangen wird, d.h. zum Beispiel zwei Gebilde, die zu verschiedenen Zeiten existieren, sind in ihrem Wesen identisch, wenn ihre Muster gleich sind.
 
Movarek beschreibt das so:
"Die Essenz einer Person, mein Selbst, ist das Muster und der Prozeß, der in meinem Gehirn und Körper abläuft, nicht die Maschinerie, die diesen Prozeß ermöglicht. Wenn der Prozeß erhalten bleibt, bleibe ich erhalten. doch eine Einschränkung wäre noch zu machen:
Auferstehung heißt für Tipler Simulation bzw. Emulation und nicht wie für Kryoniker, die Wiederbelebung des menschlichen Körpers oder Gehirns nach einer bisher noch unbekannten Dauer des Eingefrorensein z.B. bei der usamerikanischen Firma Alcor. Nicht ein Auftauen und Wiederbeleben durch Nanomaschinen bzw. Roboter, die in den Blutbahnen kreisen. Doch sowohl die Mustertheorie Tiplers als auch die Theorie der Kryoniker sehen voraus, daß die einzelnen Querverbindungen der Nervenzellen für das Lebensmuster entscheidend sind. Denn für beide gilt: "Es gibt heute keine Zweifel mehr daran, daß das, was wir als Bewußtsein erfahren, seine materiellen Grundlagen in dem Netz von Neuronen hat, Nervenzellen, von denen sich in jedem menschlichen Gehirn soviele befinden wie Steine in der Milchstr. So ruhen eben nicht in den einzelnen Zellen, sondern jeweils in vielen, im Netz der Synapsen, ruhen Daten und persönliche Erinnerungen"  [21]. Beide Verfahren, die der Kryoniker und die der Mustertheoretiker wie Tipler gehen davon aus all die Querverbindungen der Nerven konservieren und wieder aktivieren zu können.
Einmal wird das Gehirn, die Zentrale menschlichen Bewußtseins, eingefroren, um es wieder aufzutauen und mit Nanorobotern zu erweitern und zu reparieren. Ein andermal werden die Vorgänge des Gehirns emuliert. Doch kommt das nicht auf das gleiche an: die Konservierung und Nachbildung des Gehirnprozesses? das scheint zumindest bei Tipler der Fall zu sein.
Und das spielt auch eine Rolle für das Problem von Thomas von Aquin:
Tipler versucht Aquins Problem biophysikalisch zu lösen: "Wir dürfen nicht vergessen, daß die Atome, aus denen unser Körper besteht, ständig durch andere Atome aus der Nahrung, die wir zu uns nehmen, ausgetauscht werden. Ein größerer Teil des menschlichen Körpers wird im Laufe des Lebens vollkommen neu gebildet - repliziert-, denn Körperzellen sterben ab und werden ersetzt. Ein fortwährender Austausch von Körpersubstanz" So läßt sich für ihn auch Aquins Frage, was Gott macht, wenn er einen Menschen wieder zusammensetzt, der ein Kannibale war und seine Eltern und Großeltern gegessen hat, beantworten. Denn beim fortwährenden Austausch und bei der Wiederverwertung der Materie lassen sich Kannibalenatome nicht von denen des Opfers unterscheiden. Denn was beim Menschen erhalten bleibt, ist nicht die Substanz sondern das Muster. Und die Bewahrung des Musters würde Unsterblichkeit bedeuten. [22]
Diese Annahme könnte eine Erklärung für die magische Wirkung des Kannibalismus bieten, indem sie eine Analogie herausfordert. Das Muster des Lebens wie es die moderne Kosmologie entwirft, entspräche der Seele oder den Geistern, die in der Magie des Kannibalismus wirken. Leben hieße also Muster und das Muster wäre die Seele. Das Muster ist aber an das Gehirn gebunden, die Prozesse dort. Insofern bliebe der Seele trotz allem nichts anderes übrig, ihre materielle Grundlage zu bekunden und ein Stück Fleisch zu sein - digitales Fleisch. [23] So bleibt auch der Christologie nur, Brot und Wein mit Hilfe von Einsetzungsworten in Fleisch und Blut zu verwandeln, um die materielle Grundlage der Seele anzuzeigen und eßbar zu machen.
 
Diese Analogie würde den Kannibalen zum Computer machen, der das Muster bewahrt. Der Körper "Fleisch und Blut" diene als Medium für einen Verkehr, der seine körperlichen Grenzen überschreitet. überschreitung heißt hier Unsterblichkeit. Diese Überschreitung wird organisiert und kontrolliert- damit nicht doch der Brocken im Hals stecken bleibt oder das Bild im Apparat verharrt- mit den Techniken und Versprechungen des rituellen Kannibalismus, dessen Modell auch meine Lektüren des biblischen Abendmahls motiviert hat. Es sind die Techniken einer oralen und zugleich analen Topologie. Sie sind es, die ein Versprechen repräsentieren und zugleich einlösen. Mit den Einsetzungsworten spricht das "Versprechen" von sich selbst. Gleichsam analog der Tastatur des Computers die in Anschlag gebracht werden muß, haben sie, die Einsetzungsworte -wie von mir ausgeführt wurde- die Funktion die Wandlung in Gang zu setzen.
 
Das Computer lebend vorgestellt werden, so lebendig wie es ein Kannibale sein kann, ist kein Novum mehr, doch umgekehrt den Kannibalen als Computer zu denken und von dort her seine rituellen Praktiken zu entziffern macht diese zum Computerprogramm, welches als Faszinosum ein Risiko in sich birgt, doch verschlungen zu werden vom Cyberspace. Verloren im Kannibalental.
 
 




[1] Wörterbuch der deutschen Volkskunde, hrsg.v.Richard Beitl, 2.Auflg., Stuttgart 1974. Wörterbuch der Soziologie, hrg. v. Günther Hartfiel, Stuttgart 1976  <
[2] Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: G.W., Bd.XII, S.226ff  <
Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt am Main 1989
[3] Jacques Attali, Die kannibalische Ordnung. Von der Magie zur Computermedizin, Frankfurt am Main 1981  <
[4] Pierre Clastres, Chronique des Indiens Guayaki, Paris 1972; zitiert in: Attali, a.a.O., S.24ff  <
[5] Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: GW, Bd.IX, S.370ff  <
[6] Ngaire Genge, Die Wahrheit über die AkteX, 4.Auflg., München 1997, S.339ff  <
[7] Brüder Grimms Märchen, Stuttgart/Wien 1989, S.84  <
[8] Lorenz Wilkens, Opfer und Opferabschaffung im christlichen Kult, in: Kannibalismus und europä,ische Kultur, hrsg.v. Hedwig Röckelein, Tübingen 1996, S.61ff  <
[9] alle Zitate nach der Heiligen Schrift, hrsg.v. Vinzenz Hamp u.a., Aschaffenburg 1957  <
[10] ebd.  <
[11] Thomas von Aquin, in: frank J.Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, München 1962, S.291ff  <
[12] Wundt zitiert von Sigmund Freud, a.a.O., S.560  <
[13] Handbuch theologischer Grundbegriff, hrsg.v. Heinrich Fries, Mü,nchen 1962  <
[14] Sigmund Freud, Totem und Tabu, 3.Kap.,a.a.O., S.364ff  <
[15] Olivier Richon, Oralität, Analität und Photographie, in: der Entzug der Bilder, hrsg.v. Michael Wetzel und Harta Wolf, München 1994  <
[16] Thomas von Aquin, Summa contra gentiles 4.81ff, zitiert nach: Frank J.Tipler, Die Physik der Unsterblichkeit, München 1995, S. 291  <
[17] Tipler, a.a.O.  <
[18] zitiert nach C. Reiche, in: Artificial Life Forschung..., Reader. Künstliches Leben  <
[19] Tipler, a.a.O., S.164  <
[20] Tipler, a.a.O., S.258  <
[21] Gundolf S. Feyermuth, Cyberland, Berlin 1996, s.179  <
[22] Tipler, a.a.O., S.293  <
[23] Gundolf S. Feyermuth, a.a.O., S.184ff und Arthur Kroker, der digitale Körper - digital flesh, Bern 1996  <



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